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Verflochtene Erinnerungen und ihre Dynamik: „h/Holocausto“ im literarischen Diskurs in Kolumbien von 1985 bis 2022
Antragstellerin
Professorin Dr. Verena Dolle
Fachliche Zuordnung
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung
Förderung seit 2024
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 543780449
Der Holocaust an den europäischen Juden ist nicht nur in den USA und Europa verstärkt seit Ende der 1970er Jahre erneut in das kollektive Bewusstsein getreten und zu einer kosmopolitischen Erinnerung geworden, sondern auch in den Ländern Lateinamerikas. Dies hängt zum einen sicher, wie in Europa, mit der Wirkmacht der US-amerikanischen TV-Serie "Holocaust" von 1978 sowie den Spielfilmen der 1990er Jahre zusammen, zum anderen aber auch mit der ersten für eine größere Öffentlichkeit sichtbaren literarischen Artikulation jüdisch-lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren zweiter und dritter Generation, v.a. in Argentinien, Brasilien und Mexiko. Als Nachkommen osteuropäischer Juden reflektieren sie auf Spanisch ihre familiäre Verwurzelung in einer von den Nazis vernichteten Kultur und ihre eigene Verortung in Ländern, die zwar nicht direkt vom Holocaust betroffen, doch häufig von brutalen Militärdiktaturen und jahrzehntelangen internen Konflikten geprägt waren. Kolumbien ist nicht nur das lateinamerikanische Land mit dem längsten, mehr als 60 Jahre andauernden internen Konflikt, der laut Abschlussbericht der Wahrheitskommission von Juni 2022 insgesamt ca. neun Millionen Opfer gefordert hat. Im Vergleich zu anderen (lateinamerikanischen) Ländern zeichnet Kolumbien sich auch durch eine sehr spezifische, auf ein nationales Ereignis bezogene Verwendung des Begriffs "Holocaust" im öffentlichen Diskurs aus. Seit November 1985 wird der spanische Begriff "holocausto", klein geschrieben und damit im Sinne von „Brandopfer“ benutzt - in Abgrenzung vom historischen "Holocausto" des 20. Jahrhunderts, im Spanischen groß geschrieben, um ein im kollektiven Gedächtnis bis heute traumatisches Ereignis um den Justizpalast in Bogotá im November 1985 mit ca. 100 Toten bzw. Verschwundenen zu bezeichnen. Es ist davon auszugehen, dass diese außergewöhnliche, von deutscher Warte aus irritierende Verwendung des Begriffs mit der verstärkten medialen Präsenz der Bezeichnung Holocaust mit großem H im amerikanisch-europäischen Raum seit 1978 zu tun hat, ohne dass die Dimensionen beider Kontexte - des kolumbianischen und des industrialisierten Massenmords an mehr als sechs Millionen europäischer Juden - vergleichbar wären. Von diesem Massaker um den Justizpalast, dessen Bezeichnung und den letztendlich mitschwingenden Konnotationen ausgehend, haben sich vielfältige, auch mit dem europäischen Holocaust und den Gräueltaten der Nationalsozialisten verflochtene Stränge der Erinnerung und des Erzählens von Gewalterfahrungen in literarischen Texten entfaltet. Diese machen deutlich, dass auch in den Ländern des Globalen Südens, die nicht unmittelbar in die Ereignisse von Zweitem Weltkrieg und Holocaust involviert waren, wie z.B. Kolumbien, eine durchaus eigenständige Erinnerungstradition in der Auseinandersetzung mit ihnen zu verzeichnen ist. Das Projekt widmet sich den Verflechtungen und Dynamiken dieser Erinnerungen in einem Korpus von zehn Werken, fast alle erschienen ab 2004.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen