Legitimations- und Repräsentationsstrategien russischer Herrschaft an der Ostsee: Von den Ostseeprovinzen Russlands zu den baltischen Sowjetrepubliken
Final Report Abstract
Das aktuelle Verhältnis der Russischen Föderation zu ihren baltischen Nachbarn ist aufgrund unterschiedlicher Interpretationen der Vergangenheit immer noch recht gespannt. Eine historische Aufarbeitung der geteilten Geschichte tut daher Not, wobei dies Projekt sich auf die russischen Bilder von seinen Nachbarn konzentriert und die diversen russischen Baltikum-Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert analysiert. Damit betritt es Neuland in einer historiographischen Situation, in der jüngste Studien sich vor allem auf russische Bilder von und Politik in den polnisch-litauischen und weißrussisch-ukrainischen imperial borderlands konzentrieren. Die Studie stellt sich somit der Aufgabe, den „baltischen Spiegel“ des Russländischen Imperiums herauszuarbeiten. Zwar hatte das Russische Reich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts seine Grenzen an die Ostseeküste ausgedehnt, doch wurden die so genannten deutschen Ostseeprovinzen Russlands erst im 19. Jahrhundert von einer allmählich entstehenden russischen Öffentlichkeit „entdeckt“. Während zunächst sozialpolitisches Interesse an den dort bereits 1816/19 befreiten Bauern vorherrschte, sah das in Hinblick auf öffentliche Debatten rigide Regime Nikolaus’ I. in Est-, Liv- und Kurland vor allem den Schauplatz einer eigenen russischen Romantik, wie z. B. in den Walter Scott nachempfundenen Rittergeschichten des Schriftstellers Aleksandr Bestužev-Marlinskij. Seit den 1830er Jahren lockten die baltischen Burgen und Schlösser aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch zunehmend Reisende an, die in ihren Berichten ein eindrückliches Bild dieser kulturell fremden, aber zugleich gut bekannten „europäischen“ Region zeichneten. Aufgrund des auch in Russland immer mehr Anhänger findenden nationalistischen Gedankenguts wurde aus diesem „russischen Deutschland“, dessen Fremdheit als kulturelle Bereicherung des Reiches markiert war, zunehmend jedoch ein störender Fremdkörper in der Vision eines ethnisch homogenen Staates. Diese Umwertung einst bewunderter Verhältnisse war Teil eines mentalen Aneignungsprozesses, in welchem Est-, Liv- und Kurland in russischen Augen „russifiziert“ wurden. Land und Leute an der Ostsee darüber hinaus zu einem historisch gerechtfertigten russischen Besitz zu erklären, war die notwendige Konsequenz für all diejenigen, die das Ethnos als Ordnungskategorie des Imperiums wollten: Sie mussten russische Herrschaft über nicht-russische Regionen neu legitimieren, da in diesem Kontext dynastische Kontexte immer weniger galten. Hierzu bediente sich die nationale Öffentlichkeit, die seit den 1860er Jahren in Russland immer breitere Schichten umfasste, vier Argumentationsstrategien: der imperialen, der historischen, der geopolitischen und der ethnographischen. Während die Auseinandersetzungen um imperiale Innenpolitik an der Ostsee von Beginn an als Schauplatz eines slawisch-germanischen Kulturkampfes verortet wurden, emanzipierte sich die estnische und lettische Bevölkerungsmehrheit zusehends von den patriarchalischen Zukunftskonzepten einer „Russifizierung“ oder „Germanisierung“. Im Windschatten des deutsch-russischen Kampfes um ihre Seelen blieb es vor allem russischen Betrachtern lange verborgen, dass das Baltische Gebiet des Russischen Reiches zunehmend unter estnischen und lettischen Einfluss geriet. Vor allem die Rolle der Orthodoxie in den protestantischen Ostseeprovinzen, deren religiöse Homogenität durch eine massive Konversionswelle von ca. 100.000 Esten und Letten zum „Zarenglauben“ in den 1840er Jahren ins Wanken geraten war, ist bislang kaum einmal in den Fokus der Historiographie geraten. Hier betritt die Arbeit Neuland, denn sie zeigt, wie erfolglos die nationalromantische Vorstellung der Slawophilen von der unausweichlichen slijanie, der „Verschmelzung“ der Esten und Letten mit ihren russischen Nachbarn, gerade auch unter den gemeinhin als „natürliche“ Stütze russischer Herrschaft geltenden estnischen und lettischen Orthodoxen war. Je patriarchalischer der russische Klerus sich ihnen gegenüber benahm, desto mehr ersetzten sie nur die Praktiken der deutschen lutherischen Pfarrer. Ungeschrieben bleibt einstweilen das geplante Kapitel über die Tradierung der in der späten Zarenzeit eingeschriebenen Denkmuster über die Ostseeprovinzen in der Sowjetzeit. Die grundsätzliche Tendenz des russischen Blicks auf die Esten, Letten und auch die Litauer, welche erst im 20. Jahrhundert sozusagen „eingemeindet“ wurden (sie gehörten in russischen Augen zuvor zum katholisch-polnischen Kulturkreis, nicht zum protestantischdeutschen), blieb jedoch bestehen: Man bemühte sich weiterhin, in Kategorien der „Freunde“ und „Feinde“ des Imperiums zu denken, wobei gerade auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Inkorporierung der Region in die UdSSR das nunmehr „Sowjetische Baltikum“ sowohl als Sehnsuchtsort („unser Westen“) als auch als gefährdetes Grenzland imaginiert werden konnte.
Publications
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Das Baltikum im russischen Blick: Rußland und sein Anspruch auf die baltischen Staaten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts, in: Nordosteuropa als Geschichtsregion. Beiträge des III. Internationalen Symposium zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten vom 20.-22. September 2001 in Tallinn (Estland), hrsg. v. Jörg Hackmann, Robert Schweitzer, Lübeck, Helsinki: Verlag Schmidt-Römhild, Aue-Stiftung 2006, S. 392-411
Karsten Brüggemann
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Foreign Rule and Collaboration in the Baltic Countries, 1860-1920: New Directions in Research. Special Issue, Journal of Baltic Studies 37 (2006), Nr. 2 (79 S.)
Karsten Brüggemann
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«Enesemääramine lastetoas»? Vene nägemus Eestist revolutsiooni ja kodusõja ajal [„Selbstbestimmung im Kinderzimmer“? Der russische Blick auf Estland während der Revolution und des Bürgerkriegs], in: Vene võim 1710-1918, hrsg. v. Tõnu Tannberg, Tartu 2006 (= Eesti Ajalooarhiivi toimetised. 14 [21]), S. 361-385
Karsten Brüggemann
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An Enemy’s “Outpost” or “Our West”? Some Remarks about the Discourse of Russian Pribaltika in the Russian Empire and the Soviet Union, in: Ethnic Images and Stereotypes – Where is the Border Line? (Russian-Baltic Cross-Cultural Relations), hrsg. v. Jelena Nõmm, Narva: Tartu Ülikooli Narva kolledž, 2007 (= Studia humaniora et paedagogica collegii Narovensis, 2), S. 81-98
Karsten Brüggemann
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Estonia and her Escape from the East: The Relevance of the Past in Russian-Estonian Relations, in: Representations on the Margins of Europe. Cultural and Historical Identities in the Baltic and South Caucasian States, ed. by Tsypylma Darieva, Wolfgang Kaschuba, Frankfurt/M., New York: Campus Verlag, Chicago University Press, 2007 (= Das Fremde und das Eigene, 3), S. 139-165
Karsten Brüggemann
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Rußland und das Baltikum. Bestandsaufnahmen eines komplexen Verhältnisses im Nordosten Europas, in: Baltica. Die Vierteljahresschrift für baltische Kultur 2007, Nr. 1, S. 23-48
Karsten Brüggemann
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Wie der Revaler Domberg zum Moskauer Kreml wurde: Zur lokalen Repräsentation imperialer Herrschaft im späten Zarenreich, in: Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, hrsg. v. Jörg Baberowski, David Feest, Christoph Gumb, Frankfurt/M.: Campus, 2008 (= Eigene und Fremde Welten, 11), S. 172-195
Karsten Brüggemann
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Identity Policies and Contested Histories in Divided Societies: The Case of Estonian War Monuments, in: Identity and Foreign Policy. Baltic-Russian Relations and European Integration, ed. by Eiki Berg, Piret Ehin, Farnham, Burlington: Ashgate, 2009, S. 51-63
Karsten Brüggemann, mit Andres Kasekamp
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„Venestamine“ kui Vene impeeriumi ülemvõimu representatsioon Balti provintside näitel [„Russifizierung“ als Repräsentation der Herrschaft des Russischen Reiches am Beispiel der Ostseeprovinzen], in: Vikerkaar 2009, Nr. 7-8, S. 117-130
Karsten Brüggemann