Ökonomisches Rechnen. Die Erzeugung kalkulativer Wirklichkeiten in der Finanzwirtschaft
Final Report Abstract
Das Forschungsprojekt hat erstens die Herstellung von Formeln und geschlossenen Lösungen im Bereich der angewandten Finanzmathematik und zweitens die soziale Verwendung dieser Formeln und anderer Zahlenwerke im operativen Geschäftsbereich des Portfoliomanagements empirisch untersucht. Hierzu hat es in beiden Projektteilen auf zwei qualitative Forschungsmethoden zurückgegriffen: Experteninterviews und teilnehmende Beobachtungen im Feld. Beide Untersuchungsgegenstände berühren die klassische Frage der Wirtschaftssoziologie nach dem Umgang mit Ungewissheit respektive Risiko und damit nach dem Sinn ökonomischer Investitionen. Wie lässt sich mit ökonomischer Ungewissheit durch den Einsatz mathematischen Wissens (in diesem Fall: stochastische Differentialgleichung) oder ökonomischer Repräsentationen umgehen? Die angewandte Finanzmathematik konstruiert ihre Formeln für CDOs als analoge Simulation. Da weder die Zusammensetzung des CDOs, noch die Ausfallkorrelation noch die Preise bekannt sind, zieht man etablierte CDOs zum Vergleich heran, die Rückschlüsse auf den Preis und Ausfallkorrelation ermöglichen. Mit anderen Worten: Man geht also davon aus, dass ähnliche CDOs eine analoge Ausfallkorrelation aufweisen. Daher kann durch Übertragung einer berechenbaren Ausfallkorrelation, die für ein altes, schon laufendes CDO gilt, die Korrelation des neuen CDO modelliert und simuliert werden. Im Sinne Wittgensteins nimmt man eine „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein) an, die trotz ungenauer Relationen der CDOs ein tragfähiges Modell ermöglicht. Das erste Problem besteht also darin, im Vergleich zweier CDOs Informationen über die Korrelation und den Preis zu gewinnen. Das zweite Problem besteht darin, dass die Korrelationen in den CDOs zu komplex werden, um noch berechnet und modelliert werden zu können. Man nimmt daher eine Reduzierung durch Kategorisierung vor. So korrelierte nicht mehr jedes Element miteinander, sondern nur noch Industriegruppen oder Branchen. Analoge Simulation und Reduktion wurden vom Projekt als die beiden Strategien identifiziert, mit denen Finanzmathematiker ihre Arbeit an der Formel umsetzen. Die Analyse des Portfoliomanagements zeigt eine post-objektivistische Haltung gegenüber den Formeln und anderen Zahlenwerken. Es dominiert ein pragmatischer Umgang mit den verfügbaren Zahlen: Sie werden nicht als „richtige“ im Sinne von „wahren“ Zahlen verwendet, also nicht im Sinne unhinterfragter Repräsentanten einer externen Wirklichkeit. Ihre Legitimität resultiert vielmehr aus ihrem Gebrauch durch eine Vielzahl anderer relevanter Akteure des Finanzmarktes. Die Güte der Maße und ihrer Ausprägungen (Zahlzeichen) ist hier nicht eine Funktion der Übereinstimmung mit dem externen Referenten, sondern eine Funktion ihrer Kommunizierbarkeit, d.h. ihrer intersubjektiven Geltung innerhalb der Sphäre des Finanzmarktes, sowie ihrer Nützlichkeit als Zahlenrhetorik. Auch wenn viele der interviewten Portfolio Manager ein „Unbehagen“ in Hinblick auf die Validität der Daten artikulieren, so geht das Forschungsprojekt davon aus, dass die Daten deshalb (und nur in diesem spezifischen Sinn) als valide akzeptiert werden, gerade weil sie keinen individuellen Autor haben, sondern als im System der Finanzmarktkommunikation akzeptierte und schlicht gebrauchte Daten wahrgenommen werden, mit denen sich bestimmte Operationen durchführen lassen. Die Forschung des DFG-Projektes wurde in überregionalen Tageszeitungen rezipiert, siehe: http://www.fr-online.de/kultur/debatte/basar-der-menschlichen-dinge/-/1473340/4748160/-/view/asFirstTeaser/-/index.html; http://www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/1016/feuilleton/0071/in dex.html).
Publications
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Kalthoff, Herbert
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2007. Rechnende Organisation. Zur Anthropologie des Risikomanagements. In: Jens Beckert / Rainer Diaz-Bone / Heiner Ganßmann (Hg.): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt/Main: Campus, S. 151-165
Kalthoff, Herbert
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2007. Zwischen Wirtschaftstheorie und lokaler Praxis: Zur Soziologie ökonomischen Wissens. In: Hanno Pahl/Lars Meyer (Hg.): Kognitiver Kapitalismus. Zur Dialektik der Wissensökonomie. Marburg: Metropolis, S. 41-73
Kalthoff, Herbert
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2008. Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung. In: Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer, Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Die Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 8-38
Kalthoff, Herbert
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2008. Framing Complexity in Financial Markets. An Example of Portfolio Management, Science, Technology & Innovation Studies 4 (2): 115-130
Svetlova, Ekaterina
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2008. Theoretische Empirie. Die Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Kalthoff, Herbert, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann
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2009. Die Finanzsoziologie: Social Studies of Finance. Zur neuen Soziologie ökonomischen Wissens. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 49: Wirtschaftssoziologie, hrsg. von Jens Beckert und Christoph Deutschmann, S. 266-287
Kalthoff, Herbert
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2010. Representing and Modelling – The Case of Portfolio Management. In: Massimo Amato, Luigi Doria, Luca Fantacci (Hrsg.): Money and Calculation: Economic and Sociological Perspectives. London: Palgrave Macmillan, S. 174-188
Kalthoff, Herbert / Vormbusch, Uwe
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2011. Un/Doing Calculation. On Knowledge Practices of Risk Management. In: Distinktion. Scandinavian Journal of Social Theory 12 (1): 3-21
Kalthoff, Herbert