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Krankes Ich – heilendes Wir? Der „depressive Mensch“ als gesellschaftliches Projekt in der DDR 1945 bis 1975. Eine Therapie- und Gesellschaftsgeschichte der Depression im Sozialismus

Antragstellerinnen / Antragsteller Professor Dr. Florian Bruns; Professorin Dr. Silke Satjukow
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung seit 2025
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 554474344
 
Anfang der 1950er Jahre machte sich die DDR auf den „planmäßigen Weg“ in eine bessere Zukunft. Der forcierte Aufbau des Sozialismus verlangte nicht nur von Funktionseliten, sondern von der ganzen Bevölkerung größtes Engagement und höchste Leistungen. Jedoch gab es Menschen, die an den Herausforderungen dieses Aufbruchs in eine neue Gesellschaft und am Anspruch eines „neuen Menschen“ scheiterten. Depressive Menschen etwa stellten mit ihren krankheitstypischen Symptomen wie Traurigkeit und Antriebslosigkeit eine Abweichung von der propagierten gesellschaftlichen Dynamik dar. Uns interessiert, wie mit jenen Menschen umgegangen wurde, denen es krankheitsbedingt kaum oder gar nicht möglich war, am vorwärtsdrängenden sozialistischen Projekt mitzuwirken. Im Zentrum des Projekts steht der „depressive Mensch“, der den tagtäglichen Anforderungen der DDR-Arbeitsgesellschaft nicht genügte und den verordneten Optimismus nicht aufbringen konnte. Wir untersuchen Diskurse und Zuschreibungen, die mit depressiven Menschen verknüpft wurden, auf allen relevanten Ebenen: in der Politik und Administration von Partei und Staat, bei den „Sicherheitsorganen“, im akademisch-fachwissenschaftlichen Bereich – und vor allem am Behandlungsort, in unserem Fall die Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Halle (Saale). Ziel ist es, individuelle Vorstellungen und kollektive Normen sichtbar zu machen, die es erlauben, die Grenzfragen nach Anpassung und Devianz, nach Toleranz und Unterstützung, nach Stigmatisierung und Pathologisierung sowie nach medizinischer Behandlung mit und ohne medikamentöse Hilfe zu verstehen. Wir stützen uns auf einen außergewöhnlichen Quellenbestand: die vollständig überlieferten und aufwändig konservatorisch gesicherten Patientenakten der Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie. Für den Untersuchungszeitraum vom Ende des Nationalsozialismus und der Nachkriegsphase 1945 über die Stabilisierung und Aufbruchszeit der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre wurde ein Sample von rund 4.000 Patientendossiers der Diagnosefamilie „Depression“ eruiert. Diese erlauben sowohl einen quantitativen als auch einen qualitativen Zugang zur Beantwortung der folgenden Teilfragen: 1. „Topographie“ depressiver Erkrankungen der Region Halle: Welche räumlichen Verortungen, zeitlichen Verlaufskurven und sozialen Verteilungen lässt die quantitative Auswertung der Krankenakten erkennen? 2. Therapeutische Interaktionen: Wie interagierten „depressive“ Patient:innen und behandelnde Ärzt:innen auf Station? 3. Selbst- und Fremdnarrative: Wie verstanden sich als depressiv diagnostizierte Menschen selbst? Wie wurden sie, ihre Krankheit und ihr gesellschaftliches Umfeld von den Therapeut:innen wahrgenommen? 4. Gesellschaftliche Interaktionen: Wie gestaltete sich das Alltagsleben von depressiven Menschen in der Kollektivgesellschaft der DDR zwischen ideologischen Ansprüchen, sozialen Beziehungen, therapeutischen Maßnahmen und repressiven Erfahrungen?
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
Internationaler Bezug Österreich
 
 

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