Detailseite
Zwischen Re- und Dekonstruktion: Die Religio-Säkularisierung des spätosmanischen Islams
Antragsteller
Dr. Daniel Kolland
Fachliche Zuordnung
Islamwissenschaft, Arabistik, Semitistik
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2025
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 557887256
Dieses begriffsgeschichtliche Forschungsvorhaben untersucht wandelnde Islamkonzepte im Osmanischen Reich zwischen den Jahren 1876 --1922. Es stützt sich auf eine neu verfügbare, KI-gesteuerte digitale Datenbank (Müteferriqa), um einen umfangreichen Korpus bisher kaum erschlossener türkischsprachiger Zeitschriften in arabischer Schrift zu analysieren. Die Autoren dieses Korpus reichten von Ṣūfī-affinen Dichtern und Gelehrten bis hin zu islamistischen Sozialreformern. Diese Quellen ermögliche eine Untersuchung des osmanischen Islam aus zwei Forschungsperspektiven. Der erste, genealogische Blickwinkel (a) analysiert Prozesse, die den politischen türkischen Islam des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt haben. Der zweite Blickwinkel (b) ist archäologischer Natur: Er erforscht marginalisierte aber ehemals zentrale Praktiken des osmanischen Islams. Der genealogische Teil (a) des Projekts untersucht zwei verflochtene Prozesse: (1) Die Verwandlung des Islams in eine nationale Identität und utilitaristische Reformideologie, die weltlichen Fortschritt versprach, und (2) Neulesungen des Islams durch einen (globalen) Begriff von "Religion" als einen klar abgrenzbaren göttlichen Geltungsbereich. Diese Prozesse als Säkularisierung und 'Religionisierung' klassifizierend stützt sich das Forschungsvorhaben auf Markus Dresslers theoretisches Konzept der Religio-Säkularisierung (2019) und untersucht, wie sich diese Prozesse gegenseitig bedingten. Die zweite, archäologische Perspektive (b) analysiert die Auswirkungen dieses Doppelprozesses indem sie zwei Diskurse untersucht mithilfe derer osmanische Muslime traditionell ihr Gottesbewusstsein zum Ausdruck brachten: Poesie und Sufismus. Das Vorhaben untersucht (3) die Strategien, die Vertreter der osmanischen Ṣūfī-Kultur insbesondere nach 1908 verfolgten, um Ṣūfī-Hermeneutik und Praktiken mit dem neuen utilitaristischen Islam-als-Religion in Dialog zu bringen. Abschließend untersucht es (4) spätosmanische Versuche, die tradierte Poetik mit Begriffen wie "Religion", sozialem Nutzen und der neuen "Literatur" (edebīyāt) Kategorie, die einige Literaten als autonom und säkular definierten, neu zu denken. Die Geschichte des spätosmanischen Islams, die an den Schnittstellen zwischen osmanischer Sozial- und Politikgeschichte einerseits und islamischer Geistesgeschichte andererseits liegt, ist bis heute eine Forschungslücke geblieben. Das vorliegende Projekt unternimmt einen ersten Schritt zur Schließung dieses Desiderats, indem es diese beiden Forschungstraditionen in einen Dialog bringt und bisher kaum erforschte Archive und fromme Intellektuelle präsentiert. Das ermöglicht es nicht nur, die zunehmende Differenzierung von Islamkonzepten zu betonen, sondern auch Erzählungen eines Osmanischen Reichs, das zerrissen ist zwischen Religion und Säkularismus, durch eine Darstellung ersetzt werden, die genau diese Kategorien historisiert und damit die Transformationen des Islams nicht jenseits der Moderne, sondern fest in ihr verortet
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
