Robert Davidsohn (1853-1937): seine Autobiographie und seine Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg - Ersteditionen mit Kommentar
Final Report Abstract
Mit Robert Davidsohns Autobiographie „Menschen, die ich kannte. Erinnerungen eines Achtzigjährigen“ (Privatbesitz, USA) sowie den tagebuchartigen „Erinnerungen der Kriegszeit“ (Bayerische Staatsbibliothek München), werden zwei Selbstzeugnisse vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht Anschlussmöglichkeiten für die historische, kulturwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Forschung aufweisen. Die Autobiographie dokumentiert den Weg eines deutsch-jüdischen Kaufmannssohnes aus Danzig vom Journalisten über den Unternehmer zum Rentier und akademisch ausgebildeten Privatgelehrten in Florenz, der auf seine außergewöhnlichen und exemplarischen Aspekte etwa im Hinblick auf zeitgenössische Rollen- und Karrieremuster zu befragen wäre. So zeichnet sich etwa in Habitus und Lebensführung des deutsch-jüdischen Privatgelehrten eine kaum systematisch untersuchte Alternative bzw. ein Differenzmodell zur sich durchsetzenden institutionalisierten Wissenschaft ab. Nicht zuletzt aufgrund des kosmopolitischen Lebensstils des seit 1889 in Florenz ansässigen Historikers, der sich in einem deutsch-italienisch-europäisch-amerikanischen Umfeld von bürgerlichen wie adligen Künstlern und Gelehrten, Akademikern und Angehörigen der politisch-wirtschaftlichen Eliten bewegte, zeichnet sich die Autobiographie durch ungewöhnliche Weite der Perspektive sowie Dichte der Information zu Personen und Entwicklungen vom ausgehenden deutschen Kaiserreich bzw. des italienischen Königreichs bis zur Zeit des Nationalsozialismus bzw. italienischen Faschismus aus. Gerade im Zusammenhang mit den „Erinnerungen der Kriegszeit“ zeigt sich das Potential für eine vertiefte Erforschung der deutsch-italienischen Beziehungen, deren konfliktgeladene Entwicklung unter kulturellen Gesichtspunkten nur unzureichend untersucht ist. Darüber hinaus bietet die Edition Material für eine weitere Differenzierung der politischen Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs bzw. des Ersten Weltkriegs. Davidsohns Kriegstagebuch dokumentiert die politische und intellektuelle Suchbewegung eines deutsch-jüdischen Gelehrten zwischen liberaldemokratischer Grundhaltung, konservativen Positionen und aggressivem Kriegsnationalismus von der ungewöhnlichen Warte eines Auslandsdeutschen. Gerade das Nebeneinander der beiden Quellen in ihrer Differenz und in ihren wechselseitigen Bezügen bietet hier die Möglichkeit zum diachronen Vergleich der autobiographischen Erinnerungsarbeit. Als überraschend facettenreich erwies sich die Fülle der ergänzend recherchierten Archivalien, die teilweise im Rahmen der Edition publiziert werden. Sie erweitern und reflektieren nicht nur die Quellen, sondern liefern – wie etwa die Briefe – wertvolle Informationen, die persönliche Netzwerke erschließen und eine Perspektive auf das subjektive Erleben des Ehepaars Davidsohn eröffnen. In der Gesamtheit bietet die Edition damit vielfältiges Material für Forschungsfragen verschiedener Fachdisziplinen.
Publications
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Menschen die ich kannte (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts ; 77), München, 2021. XII, 891 Seiten
Robert Davidsohn; hrsg. von Martin Baumeister, Wiebke Fastenrath Vinattieri in Zusammenarbeit mit Wolfram Knäbich