Koloniale Transferprozesse in der Literatur des 19. Jahrhunderts: Die Karibik im Kontext der kulturellen Strahlungskraft Europas am Beispiel von Frankreich und Spanien (1789-1886)
Final Report Abstract
Das Projekt widmete sich den kulturellen Wirkungsweisen verschiedenartiger kolonialer Herrschaftssysteme in der spanisch- und französischsprachigen Karibik des langen 19. Jahrhunderts. Methodisch lag der Schwerpunkt auf der komparativen Betrachtung kultureller Transferprozesse, eine Perspektive, die sich als äußerst fruchtbar erwiesen hat. Der Vergleich der frankophonen und hispanophonen Literaturproduktion aus der und über die Karibik zeigte die unterschiedliche Rezeption, Aneignung und Transkulturation mutterländischer Diskurse sowie deren Rückwirkungen auf die Fremdbilder in der Metropole. Insgesamt konnte die These bestätigt werden, dass der Verlust eines kulturell bindenden Zentrums im Falle der spanischen Kolonien – im Kontrast zu der starken Strahlungs- und Bindungskraft Frankreichs, die auf kultureller Ebene sogar im Falle des revolutionären Haiti gilt – mit einer Multirelationalität einhergeht, die die Literaturen insbesondere der spanischsprachigen Karibik zunehmend prägt und das Streben nach Unabhängigkeit befördert. Ein Teilprojekt zum Transfer Jahrhunderte alter, europäisch geprägter Mensch-Tier-Dualismen in die Karibik brachte ambivalente literarische Animalisierungsstrategien im Kontext von Sklaverei und Abolition ans Licht. Ein anderes liefert neue Einsichten in die frühen Prozesse kultureller Globalisierung und arbeitet einen kolonialen Erfahrungsraum des Brüchigen, des Dazwischen heraus. Die Erfahrung des Dazwischen erwies sich als grundlegende Gemeinsamkeit für kreolisches Schreiben in der Karibik im 19. Jahrhundert, bei den békés, der weißen Oberschicht Martiniques und Guadeloupes, ebenso wie bei den Free People of Color in New Orleans: Identitätszuschreibungen funktionieren oft nicht eindeutig, ihre Brüchigkeit selbst wird zum Dreh- und Angelpunkt des Schreibens – und hier liegt wohl eines der zentralen Motive kolonialer Umformung von hegemonialen Diskursen und Modellen. Gerade für das 19. Jahrhundert ist eine solche literarische Inszenierung überraschend; einmal mehr präsentierte sich die Literatur als privilegierter Ort von Wissenszirkulation. So auch in einem weiteren Projekt, das der Zirkulation von Körperwissen und seiner Literarisierung nachging. Anhand der Reiseberichte und Romane karibikreisender Autorinnen des 19. Jahrhunderts konnten erstmals die Verflechtungsebenen einer transkulturellen Körpergeschichte zwischen Europa und der Neuen Welt erschlossen werden. Der gezielte Blick auf reziproke Transferprozesse, in denen sich beide Seiten in dynamischer Interaktion als Subjekte engagieren, bekräftigte zum einen die Anbindung sogenannter Nicht-Zentren wie der kolonialen Karibik an die europäischen Metropolen als unverzichtbarem Reflexions- und Ergänzungsraum einer heterogenen Moderne, eröffnete aber auch eine Perspektive auf symmetrische, interkoloniale Verbindungen im Sinne eines frühen „Global South“, denen weiter nachzugehen sich sicher als lohnend erweisen würde.
Publications
- Caleidoscopios coloniales. Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX / Kaléidoscopes coloniaux. Transferts culturels dans les Caraïbes au XIXe siècle. Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert-Iberoamericana 2010
Ette, Ottmar/Müller, Gesine (Hg.)
- „‘Aunque la virgen sea blanca, píntame angelitos negros’ – Paradoxien in den kolonialen Schönheitsdiskursen der hispano-karibischen Literatur des 19. Jahrhunderts“. In: Martina Stemberger (Hg.): Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 17, Heft 33: „Die Maskeraden der Schönheit“. Leipzig 2010, S. 15−32
Abel, Johanna
- „El Bois-Caïman y la mitificación de la figura negra en Les Créoles ou la Vie aux Antilles de J. Levilloux“. In: Liliana Gómez/Gesine Müller (Hg.): Relaciones caribeñas. Entrelazamientos de dos siglos / Relations caribeénnes. Entrecroisements de deux siècles. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011, S. 69−88
Meyer-Krentler, Leonie
- Die koloniale Karibik. Transferprozesse in frankophonen und hispanophonen Literaturen. Berlin: De Gruyter (Reihe mimesis) 2012 [Habilitationsschrift]
Müller, Gesine
- Worldwide. Archipels de la mondialisation. Archpiélagos de la globalización. Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert-Iberoamericana 2012
Ette, Ottmar/Müller, Gesine (Hg.)
- Die Idee des Menschen in der Karibik. Mensch und Tier in französisch- und spanischsprachigen Erzähltexten des 19. Jahrhunderts. Berlin: tranvía 2013 [Dissertation]
Meyer-Krentler, Leonie
- Kreolisierung revisited. Debatten um ein weltweites Kulturkonzept. Bielefeld: transcript 2013
Müller, Gesine/Ueckmann, Natascha (Hg.)
- Paisajes vitales. Conflictos, catástrofes y convivencias en Centroamérica y el Caribe. Berlin: tranvía 2014
Ette, Ottmar/Müller, Gesine (Hg.)
- Transatlantisches KörperDenken. Reisende Autorinnen des 19. Jahrhunderts in der hispanophonen Karibik. Berlin: tranvía 2015 [Dissertation]
Abel, Johanna
- „La Revue des colonies comme média de transfert au sein d’une diaspora francophone transatlantique“. In: Jean Marc Moura, Véronique Porra (Hg.): L’Atlantique littéraire: Perspectives théoriques sur la constitution d’un espace translinguistique. Hildesheim: Olms 2015, S. 125−142
Müller, Gesine