Funktionelle Bedeutung und Mechanismen der Bewegungsadaptation: Adaptive Populationskodierung von natürlicher Information durch das visuelle System der Fliege
Final Report Abstract
Es gibt zahlreiche Prozesse im Nervensystem, die das Antwortverhalten von Neuronen in sensorischen Systemen auf Sinnesreize in Abhängigkeit von der Reiz-Vorgeschichte verändern. Man geht davon, dass solche Prozesse einen Vorteil für das System darstellen und deshalb als adaptiv betrachtet werden können. Allerdings kann in den meisten Fällen lediglich darüber spekuliert werden, worin dieser Vorteil bestehen soll. Dies galt insbesondere auch für die zahlreichen adaptiven Effekte, die im Bewegungssehsystem von Fliegen exemplarisch beschrieben werden konnten. Bislang wurde Bewegungsadaptation meistens auf der Basis relativ einfacher, von der Experimentatorin bzw. dem Experimentator definierten visuellen Reizsequenzen untersucht, die nur in unzureichende Weise Schlüsse auf die Bedingungen zulassen, mit denen das Bewegungssehsystem in Verhaltenssituationen konfrontiert ist. In dem geförderten Projekt wurden zum einen die Reizbedingungen, unter denen frei fliegende Fliegen in natürlichen tiefengestaffelten Umwelten operieren, analysiert und welche Information im Bewegungssehsystem unter solchen Bedingungen repräsentiert wird, und zum anderen die funktionellen Konsequenzen von Bewegungsadaptation auf das Antwortverhalten von bewegungsempfindlichen Neuronen unter sowohl räumlichen als auch den dynamischen Bedingungen während natürlichen Verhaltens. Die Dynamik des retinalen Bildflusses wird bei fliegenden Fliegen, aber auch anderen Insekten sehr stark von deren sakkadischer Flug- und Blickstrategie bestimmt. Die Änderungen von Bildparametern, wie Helligkeit, Kontrast, aber auch der Textur innerhalb von begrenzten rezeptiven Feldern sind in natürlichen Umwelten während sakkadischer Drehungen sehr viel schneller als während der intersakkadischen Translationsphasen. Während der Translationsphasen hängen die Bildparameter jedoch sehr stark von der Tiefenstaffelung der jeweiligen Umwelt ab. Das macht deutlich, dass durch den während Translationsbewegungen induzierten retinalen Bildfluss aktiv Rauminformation „generiert“ wird. In der Tat wird diese Information auch durch das Bewegungsdetektionssystem extrahiert. Auf der Basis eines auf zahlreichen Experimenten basierenden Modells der Bewegungssehbahn von Fliegen konnte gezeigt werden, dass das Bewegungssehsystem beim Flug in natürlichen Umwelten v.a. durch Konturen von nahen Objekten aktiviert wird und somit verhaltensrelevante Information vermittelt. Derartige Objektinformation wird auch in bewegungsempfindlichen Neuronen im dritten visuellen Neuropil der Fliege repräsentiert. Objekte können sich sowohl durch ihren Kontrast, durch ihren räumlichen Frequenzgehalt oder auch durch ihren Abstand vom Hintergrund unterscheiden. Sowohl in künstlichen als auch natürlichen Umwelten führen solche Objekte in Abhängigkeit von den jeweiligen Mustereigenschaften von Objekt und Hintergrund sowie von deren räumlichem Arrangement zu unterschiedlich starken Veränderungen des Membranpotentials. Objektabhängige Veränderungen der neuronalen Antwort werden durch Bewegungsadaptation verstärkt. Die Stärke des Adaptationseffekt hängt primär von der Gesamtaktivierung der Zelle während der Adaptationszeit ab und nicht von den speizischen dynamischen Eigenschaften des retinalen Bildflusses. Insgesamt erlauben diese Befunde den Schluss, dass es eine Hauptfunktion des Bewegungssehsystem von Insekten ist, während der intersakkadischen translatorischen Bewegungsphasen, die rund 80% der gesamten Flugzeit ausmachen, verhaltensrelevante Information über die Umwelt zu vermitteln. Durch die Abhängigkeit des retinalen Bildflusses vom Abstand von Objekten in der jeweiligen Umwelt sowie wegen der spezifischen Eigenschaften der Mechanismen der Bewegungsdetektion, kommt es zu einer Repräsentation der Konturen von nahen Objekten. Verhaltensrelevante Rauminformation kann auf diese Weise mit extrem geringem Informationsverarbeitungsaufwand gewonnen werden. Die Befunde des geförderten Projekts stützen damit die Hypothese, dass eine Hauptaufgabe des Bewegungsdetektionssystems darin bestehen könnte, dank seiner kombinierten Geschwindigkeits- und Musterabhängigkeit dem Tier wichtige Umweltinformation zur weiteren Verhaltenssteuerung zur Verfügung zu stellen.