Wandel akademischer Bildung in Deutschland (1950-2002)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Hochschulbildung in Deutschland dramatisch. Mit dieser Expansion haben sich auch die Strukturen und Inhalte der akademischen Bildung verändert. Im Projekt wurde dies für die Zeitspanne von 1950 bis 2002, also bis etwa zur Einführung der gestuften Studiengänge untersucht. Dabei richtete sich der Blick auf Verschiebungen des relativen Gewichts der Studienfächer. Diese Proportionsveränderungen wurden vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels analysiert. In der beobachteten Zeitspanne verlieren im Ensemble der Studienfächer die klassischen Professionsfächer (Theologie, Rechtswissenschaften, Medizin) an Gewicht. An Bedeutung gewinnen hingegen neue Fächer mit beruflichem Anwendungsbezug, also Fächer der neuen Professionen. Sie haben mit jenen Fächern gleichgezogen, denen wissenschaftliche Disziplinen entsprechen. Verschiebungen in den Proportionen der einzelnen Fächergruppen wurden erstens im Zusammenhang mit der sich wandelnden Bildungsbeteiligung untersucht. Im Zuge der Hochschulexpansion wird das Gewicht der klassischen Professionsfächer kleiner und das der Sozialwissenschaften größer. Eng verknüpft mit der allgemeinen Hochschulexpansion sind Effekte, die sich aus der zunehmenden Beteiligung von Frauen und von Kindern aus Arbeiterfamilien an der Hochschulbildung ergeben. Sie weisen in die gleiche Richtung: Mit zunehmendem Anteil der genannten Gruppen unter den Studierenden verlieren vor allem die klassischen Professionsfächer an Gewicht, während Sprach‐/Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften sowie Kunstwissenschaften/Kunst sowie Sportwissenschaften an Gewicht gewinnen. All dies beruht auf der Voraussetzung, dass Bildung als Bürgerrecht institutionalisiert ist und keine unverhältnismäßig hohen Barrieren den Zugang zum Hochschulstudium einschränken. Im Falle einer staatlichen Quotierung der Studienplätze ergeben sich, das zeigt ein Vergleich mit der DDR, völlig andere Fächerverteilungen. Zweitens wurden die Verschiebungen der Fächerproportionen vor allem im Zusammenhang mit der Hochschulpolitik und der Beschäftigungsentwicklung in den Blick genommen. Auch die Hochschulpolitik in der BRD beanspruchte, die Hochschulentwicklung zu lenken. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates in den 1960er Jahren, die Hochschulen grundsätzlich auszubauen, deckten sich allerdings mit den faktischen Interessen der jungen Leute. Hingegen hatten politische Vorgaben in den späteren Jahren, die darauf abzielten, allgemein oder fächerspezifisch die Anzahl der Studienplätze im Namen eines vermeintlichen Qualifikationsbedarfs zu reduzieren, auf die tatsächliche Entwicklung der allgemeinen und fächerspezifischen Bildungsbeteiligung keine Auswirkung. Mit Blick auf das Beschäftigungssystem kann gezeigt werden, dass sich im Falle der Ingenieurwissenschaften, von Mathematik/Naturwissenschaften, der Rechtswissenschaften und der Lehrämter bei steigenden fachspezifischen Arbeitslosenquoten und entsprechend sinkenden Beschäftigungschancen auch die Neigung verringert, das jeweilige Fach zu studieren. Im Falle der Wirtschafts‐/Sozialwissenschaften steigen hingegen umgekehrt als Folge der Expansion dieser Fachrichtungen die fachspezifischen Arbeitslosenquoten. Nimmt man sämtliche Befunde zur fachrichtungsspezifischen Arbeitslosigkeit und zur Platzierung von Hochschulabsolventen in Arbeitsorganisationen zusammen, überrascht insgesamt die Fähigkeit des Beschäftigungssystems zur Aufnahme von Akademikern. Auch bei relativ schlechten Beschäftigungsmöglichkeiten hat sich das Beschäftigungssystem für die Hochschulabsolventen – angesichts des beständigen Zustroms neuer Absolventen im Zuge der Hochschulexpansion – als ausgesprochen absorbtionsfähig erwiesen. Die Studie legt die Schlussfolgerung nahe, dass hochschulausbildungsadäquate Beschäftigungspositionen erzeugt werden, und zwar in Anpassung an die Hochschulexpansion. Das Beschäftigungssystem diktiert damit nicht aus sich selbst heraus einen „Bedarf“ an Absolventen, den die Hochschulen schlicht zu bedienen haben, sondern die Hochschulen haben teil an der sozialen Konstruktion dieses Bedarfs.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Wandel der Hochschulbildung in Deutschland und Professionalisierung. HoF‐Arbeitsbericht 06/2011. Hrsg. vom Institut für Hochschulforschung an der Martin‐Luther‐ Universität Halle‐Wittenberg. Halle‐Wittenberg 2011
Robert D. Reisz / Manfred Stock
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Hochschulexpansion, Wandel der Fächerproportionen und Akademikerarbeitslosigkeit. Institut für Hochschulforschung an der Martin‐Luther‐Universität Halle‐Wittenberg. Halle‐Wittenberg 2012
Robert D. Reisz / Manfred Stock