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Sozial-religiöse Identität und inter-religiöse Beziehungen bei den Alawiten der Türkei (Hatay/Cukurova)

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2007 bis 2009
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 40853834
 
Erstellungsjahr 2012

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Unter den sogenannten „islamisch-heterodoxen“ Gruppen des Nahen und Mittleren Ostens stellen die Alawiten/Nusairier zweifelsohne eine der enigmatischsten Gemeinschaften dar, da ihre Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken seit Jahrhunderten dem Gebot der Geheimhaltung (taqiyya) gegenüber Außenstehenden unterliegen, das von der Mehrzahl der Alawiten bis heute beherzigt wird. Generationen von Reisenden und Islamwissenschaftlern haben zwischen dem 19. und 21. Jh. kontinuierlich den Versuch unternommen, das "geheime Wissen" dieser Gemeinschaft zu ergründen und die religiösen Lehren zu dechiffrieren, waren aber bei ihren diesbezüglichen Anstrengungen stets auf einen mehr oder weniger begrenzten Korpus von historischen Texten (d.h. alawitischen religiösen Manuskripten) angewiesen. Auch wenn die immer gleichen Texte im Laufe der Forschungsgeschichte einer fortwährenden Exegese unterzogen wurden, so fehlte es doch stets an grundlegenden empirischen Daten, um überhaupt einschätzen zu können, ob und inwieweit die in den Manuskripten aufscheinenden religiösen Vorstellungen und Lehren mit der gelebten Praxis des Alawitentums korrespondieren. Mit diesem DFG-Projekt konnten erstmals in der Forschungsgeschichte empirisch fundierte ethnologische Daten zu den Alawiten gesammelt werden. Die von Prager über einen Zeitraum von 18 Monaten erhobenen Daten beziehen sich vorrangig auf die in der Türkei lebenden Alawiten der Çukurova- und Hatay-Region, die neben Syrien heute die zentrealen Siedlungsgebiete der Alawiten bilden. Für die Türkei wird ihre Anzahl auf ca. 1. Million geschätzt. Auf der Grundlage von langjährigen Kontakten und der daraus resultierenden Einbindung in soziale Netzwerke wurde Prager Zugang zu den zentralen religiösen Ritualen gewährt, die auf diese Weise erstmals in ihrer Komplexität dokumentiert werden konnten, darunter die Lebenszyklusrituale (Geburt, Initiation, Heirat, Bestattung) sowie Heilungs-, Reinigungs- und Opferrituale. Im Vordergrund der Untersuchung stand auch das für Außenstehende zunächst rätselhaft anmutende Phänomen der Wiedergeburt, für das die Alawiten bekannt sind und worüber in den öffentlichen Medien der Türkei bis heute berichtet wird. Prager konnte so im Zusammenhang der Forschung nicht nur eine Vielzahl von Fallbeispielen hinsichtlich der Wiedergeburt dokumentieren, sondern zugleich auch verdeutlichen, welcher Stellenwert dem betreffenden Phänomen und den damit verbundenen religiösen Diskursen im Gesamtzusammenhang der alawitischen Kosmologie zukommt. Darüber hinaus wurden Daten auch zu anderen religiösen Kategorien erhoben, die nicht zuletzt auch den synkretistischen bzw. gnostisch-sufistischen Charakter der religiösen Lehre der Alawiten widerspiegeln, wie das batin und zahir, die Differenzierung zwischen "Eingeweihten" und "Nichteingeweihten", die Trinitätslehre (ma‘na, ism und bab), die kosmologischen Rangordnungen, aber auch die Unterteilung der religiösen Gemeinschaft in die beiden miteinander kontrastierenden Strömungen der Haidri und Klezi. Schließlich wurde auch die Funktion der ziyara - der religiösen Pilgerorte und deren Bedeutung im Zusammenhang der inter-religiösen und inter-ethnischen Interaktion - einer genauen Betrachtung unterzogen. Auch war eine differenzierte Betrachtung der Gender-Ordnung und der damit verbundenen religiösen Pflichten bzw. Tabus geboten, zumal der alawitischen Religion im Lauf der Forschungsgeschichte nicht selten ein "gynophober" Zug nachgesagt wurde. All diese Aspekte wurden nicht nur hinsichtlich ihrer Relevanz für die gelebte Praxis, sondern auch mit Bezug auf ihre Variation vor dem Hintergrund unterschiedlich verorteter religiöser Perspektiven untersucht. So zeigten sich vielfach Divergenzen zwischen den Perspektiven der religiösen Laien und der Scheiche, die in ihren Nuancen herausgearbeitet wurden. Ein wesentliches Anliegen der Forschung bestand nicht zuletzt auch darin, das oftmals statisch erscheinende Bild der alawitischen Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken - wie es im Laufe der Forschungsgeschichte auf der Grundlage der alleinigen Exegese von religiösen Texten gezeichnet wurde - aufzubrechen und vielmehr die Dynamik und den Wandel der alawitischen Religion in der globalisierten Welt in den Blick zu nehmen. Sowohl durch die modernen nationalstaatlichen Entwicklungen in der Türkei als auch durch die alawitischen Migranten selbst sind eine Vielzahl von komplexen transnationalen Verflechtungen und Rückkopplungsprozessen entstanden, die gleichermaßen auf den Migrationskontext wie auch auf die alawitischen Ursprungsregionen zurückwirken. So wurden im Projekt neben dem Wandel der religiösen Vorstellungen und Rituale auch die sich verändernden alawitischen Konzepte über das Ordnungsgefüge sozialer Beziehungen untersucht. Die Dissertation/Monographie L. Prager: „Die ‚Gemeinschaft des Hauses‘: Religion, Heiratsstrategien und transnationale Identität türkischer Alawi/Nusairi-Migranten in Deutschland“ wurde von der Frobenius-Gesellschaft mit dem Forschungsförderungspreis für herausragende ethnologische Dissertationen ausgezeichnet und Frau Prager wurde in diesem Zusammenhang in verschiedenen Printmedien erwähnt. 14. November 2012: Interview über Sprachwandel und Verwandtschaft am Beispiel der Alawiten, in Juliette Ritz „Sprachverlust geht einher mit Kulturverlust“, wissen leben Die Zeitung der WWU Münster

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • "Des âmes sexuées et des gènes religieux: procréation, substance et métempsychose chez les Alawites /Nosairis (Turquie)", Panel: "Pour une Anthropologie du Souffle; im Centre Louis Gernet, Institut National d'Histoire de l'Art, organisiert von Manrique & Barra
    Laila Prager
  • "A Society of "Wives without Husbands", Panel: (NP07) Contemporary Ethnography from the Middle East bei der Middle East American Association (MESA)-Konferenz, Washington D.C.
    Laila Prager
  • "Depression" and the Unspeakable: Migration, Conflict, and Gendered Healing among the Alawi/Nusairy of Southeast Turkey; Panel "Troubled Lives - Healed Bodies: Perspectives on conflict, suffering and compassion in the Middle East and Western Asia"; Konferenz: "Medical Anthropology at the Intersections", Yale University
    Laila Prager
  • "Alawi ziyara tradition and its inter-religious dimensions: Sacred places and their contested meanings in contemporary Hatay (Turkey)"; Panel: Late Ottoman/Post-Ottoman Heterodox Communities at the World Congress for Middle Eastern Studies in Barcelona
    Laila Prager
  • "Die Zeichen der Wiedergeburt: Körper, Stigmata und Religion bei den Alawiten/Nusairiern"; Panel: Körper, Sexualität und Medizin in islamisch geprägten Kulturen, Marburger Orientalistentage
    Laila Prager
  • Ames sexuées et idées de procréation chez les Alawites/ Nousairites (en Turquie). Anthropology of the Middle East 5(2): 77-99
    Laila Prager
  • Die "Gemeinschaft des Hauses": Religion, Heiratsstrategien und trans-nationale Identität türkischer Alawi/Nusairi-Migranten in Deutschland. Berlin/Münster: LITVerlag
    Laila Prager
  • Transnational connections and the paradoxes of immigration policy: The case of the Turkish Alawi migrants in Germany”; Panel: The “Integration Debate” and Modes of Incorporation – Looking at Diasporas from Turkey; DGV Wien
    Laila Prager
  • “From shared ‘blood’ to ‘religious genes’: Modern bio-medical discourses and changing practices of cousin marriage in Southeastern Turkey. “Cousin marriages and the medicalisation of spouse selection”. Seminar series: Fertility and Reproduction Studies Group at the University of Oxford
    Laila Prager
  • Umstrittene „heilige Orte“: Alawitische ziyāra-Tradition und interreligiöse Konflikte (Christen, Sunniten und Alawiten) in der kontemporären Hatay-Region (Türkei). Gastvortrag im Orientalischen Institut, Universität Leipzig
    Laila Prager
 
 

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