Serbizität in Bosnien-Herzegowina zwischen Dialektloyalität und Ethnozentrismus
Final Report Abstract
Die „ethnischen Säuberungen“ im Bosnien-Krieg 1992–1995 und die Einrichtung zweier ethnisch basierter Entitäten warfen die Frage auf, ob und wie Sprachgebrauch in fragmentierten Nachkriegsgesellschaften wie Bosnien und Herzegowina intralingual ethnisch markiert wird. Unser Erkenntnisinteresse zielte dabei indirekt auf die rezente sprachliche Divergenz, die spätestens seit 1991 die supraethnische Akkommodation und die bosnische Variantenneutralität (zwischen Kroatisch und Serbisch) aus jugoslawischer Zeit abgelöst hat. Mit Hilfe von verbal-guise-Tests sollten im Zentrum der Republika Srpska, Banja Luka, sprachliche Selbst- und Fremdwahrnehmung von Muslimen, Kroaten und Serben und somit erstmals Sprachwandel in Ex-Jugoslawien als bottom up-Prozess analysiert werden. Hierfür haben wir die Einstellungen bosnischer Serben fokussiert. Im Einzelnen beleuchtet die Studie bewusste und unbewusste Attitüden sprachlichen Phänomenen sowie allgemein den ethnischen Gruppen gegenüber, die regionale Verortung der Sprachen und die Selbst- und Fremdzuschreibung bezüglich der ethnischen Gruppe hinsichtlich der Sprachverwendung. Diese Forschungsbausteine sollten uns Einblick in die konzeptuelle Wirklichkeit der Sprecher liefern und uns letztlich eine mental map und ein Stimmungsbild in Bosnien-Herzegowina zeichnen. Methodisch gingen wir dabei so vor, dass wir Studierende unterschiedlicher Ethnien aus Mostar, Banja Luka, Belgrad, Zagreb und Sarajevo zu zwei Themen befragten und Ausschnitte dieser Samples im Mai 2010 102 Studierenden in Banja Luka vorspielten und sie vornehmlich semantisch bipolare Likert-Skalen bezüglich ihrer Einstellung der Sprache der anonymisierten Sprecher gegenüber ausfüllen ließen. Weitere Fragen betrafen u. a. die geographische Einschätzung des Sprechers sowie die seiner ethnischen Zugehörigkeit. Diese Variablen wurden daraufhin ebenfalls mit den Ergebnissen aus dem Sprecherranking in Zusammenhang gebracht. Die wichtigsten Ergebnisse umfassen in Kürze die folgenden Punkte: Grundsätzlich scheint nicht die ethnische Askription über Sympathie und Antipathie zu entscheiden. Es verdichtet sich vielmehr der Eindruck, dass die regionalen Zentren der serbokroatischen Nachfolgesprachen deutlich desavouiert werden, also Bosniakisch in Sarajevo und Kroatisch in Mostar. Gleichzeitig scheinen Zentren außerhalb Bosnien und Herzegowinas, wie Belgrad und Zagreb, positiver wahrgenommen zu werden. Als besonders überraschend ließ sich die positivste Einschätzung der Sprecher aus Kroatien bewerten. Nach außen scheint also nicht nach ethnischen Kriterien bewertet zu werden, innerhalb Bosniens dagegen ist dies der Fall. Dabei spielen allerdings weitere Faktoren eine Rolle, wie der der Region und deren Bedeutung im bosnisch-herzegowinischen Kontext. Insgesamt fiel ebenso auf, dass dialektal eingeschätzte Sprecher nicht zwingend negativ beurteilt wurden, Sprecher, die mit der ländlichen Region in Verbindung gebracht wurden, jedoch immer. Eine großflächig angelegte längerfristige Nachfolgestudie kann im Hinblick auf Fragen zu sprachpraktischen Lösungen bezüglich der Sprachregelung bei einem möglichen EU-Beitritt beratend herangezogen werden.
Publications
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Tolimir-Hölzl, N.
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Christian Voß
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Christian Voß
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Voß, Chr.
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Nataša Tolimir-Hölzl
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Christian Voß
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„Kontingenz, Inertie und Subversion. ‚Osteuropäische’ Grenzen und ihre Überwindung“. HU Berlin, 8.7.2010 (= Ringvorlesung „Über Grenzen. Kulturelle Prozesse zwischen Transnationalisierung und Regionalisierung“)
Christian Voß
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Christian Voß
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Voß, Chr.
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Tolimir-Hölzl, N.