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Volkskunde in der Metropole. Die Produktion kultureller Wissensformate und das volkskundliche Wissensmilieu in Berlin (1900-1945)

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2010 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 112065676
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Anschluss an die Arbeiten des DFG-Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“ hat das Projekt Prozesse volkskundlicher Wissensproduktion in ihren regionalen/lokalen Eigenlogiken verfolgt und dazu nach Wirkungen lokaler Gelegenheitsstrukturen auf die Wissensproduktion und nach Geltungsräumen und Reichweiten volkskundlichen Wissens im Kontext der Großstadt gefragt. In zwei Fallstudien wurden „Tracht“ und „Haus“ als Gegenstände volkskundlicher Forschung und als Elemente der Stadtkultur gleichermaßen betrachtet und damit ein Zuschnitt gewählt, der erstmals die fachhistorisch bisher bedeutsame Frage nach der späten Etablierung der Stadt als volkskundliches Forschungsfeld um die Perspektive auf die Thematisierungen und Zirkulationen volkskundlichen Wissens in der Stadt erweitert hat. Forschungsstrategisch zentral waren dabei die Suche nach Orten, an denen „Tracht“ und „Haus“ thematisiert wurden, der Blick auf die Akteure dieser Thematisierungen sowie auf die Praktiken, in denen „Tracht“ und „Haus“ hergestellt wurden. Gearbeitet wurde mit einer breiten Quellenvielfalt, die sich von Druckerzeugnissen wie Vereinszeitschriften und Tagespresse über Bilder, Ausstellungen, Filme, Feste und Hausmodelle bis zu verschiedenen Archivmaterialien erstreckte. Im Projekt wurde eine vergleichende Perspektive auf soziale Praktiken und kulturelle Formate umgesetzt, die sich als überaus produktiv erwiesen hat, weil sie die Aufmerksamkeit für die materialen Prozeduren der Wissensgenerierung, -speicherung und -vermittlung schärfte. Herausgearbeitet wurde je verschiedene, aber auch geteilte Praktiken der Haus- und Trachtenforschung, deren zentrales Merkmal im (auch sinnlichen) Be-Greifen des konkreten individuellen Objekts bestand und die eine vorrangig spezialisierte, praktische Expertise generierten. Die unterschiedliche Materialität der Objekte „Haus“ und „Tracht“ führte zu unterschiedlichen Sammlungspraktiken: Während die Sammlungspraktiken der Hausforschung das Verfügbarmachen dreidimensionaler, unbeweglicher Objekte wesentlich kennzeichnete, war das Sammeln von Trachten eher von der Idee motiviert, die Bewegung der Objekte wie ihre (modebedingte) Veränderung stillzustellen und den damit zusammenhängenden „Verlust“ aufzuhalten. Typologisieren war dabei im Untersuchungszeitraum eine zentrale volkskundliche Praxis, die sich als Praxis des An- und Abwesend-Machens bezeichnen lässt und die gerade in der Tracht- und Hausforschung dieser Jahre systematisch weiterentwickelt wurde. Das heuristische Potenzial des Milieukonzepts lag vor allem darin, den gesellschaftlichen Verankerungen volkskundlichen Wissens auch in relativer Ferne zum akademischen Feld auf die Spur zu kommen – in verschiedenen „Projekten“, Aktivitäten einzelner Akteure oder gesellschaftlichen Anwendungsfeldern. Die Bedeutung der Stadt als spezifischer Handlungs- und Möglichkeitsraum und als Ort vielgestaltiger Vernetzungen tritt dabei gerade in überraschenden Akteurskonstellationen deutlich hervor, die wiederum auf wichtige gesellschaftspolitische Funktionen des Erbe- und Traditionsdiskurses rückverweisen. Erstmals konnte umfassend herausgearbeitet werden, dass das volkskundliche Milieu ein urbanes war, welches sich nicht – wie bisher angenommen – aus dem Kreis der Lehrer und Pastoren konstituierte, sondern die Schichten der Stadtgesellschaften als Ganzes umfasste. Die im Projekt untersuchten Vereine lassen sich als Beispiele für das Spektrum unterschiedlicher Aneignungen der Großstadt Berlin mit ihrer heterogenen migrantischen Bevölkerung sowie unterschiedlicher Praktiken der Beheimatung konstatieren: von eher metropolitanen Formen und Praktiken (Verein für Volkskunde, Verein Brandenburgia) bis hin zur dezidierten Traditionspflege (Berliner Regionalvereine). Das Spektrum der Orte, an denen volkskundliches Wissen über „Tracht“ und „Haus“ zirkulierte, erwies sich als außerordentlich breit: von „klassischen“ volkskundlichen Institutionen bis zu urbanen Orten populären Vergnügens. Die Folklorisierung stellt sich dabei als inhärenter Bestandteil urbaner Kulturentwicklung dar, deren Formatierung von den Akteuren mit Versatzstücken volkskundlichen Wissens und volkskundlicher Praktiken begleitet und aktiv mitgestaltet wurde. Volkskundliches Wissen erwies sich somit nicht als „stadtfremde“ Ressource, sondern als Bestandteil „urbanisierender“ kultureller Konzepte. Die Ergebnisse lassen sich in zwei zentralen Thesen zusammenfassen: 1) Das Berliner volkskundliche Milieu ist im Untersuchungszeitraum dezidiert als ein urbanes Milieu zu beschreiben, dessen Akteure in der Stadt verwurzelt waren. 2) Praktiken der Verräumlichung von Wissen lassen sich auch als Bestandteil urbaner Identitätspolitiken fassen: Sie thematisierten Berlin, indem sie das Andere der Großstadt repräsentierten und die Distanz und Differenz zum Urbanen anzeigten. Sie waren darin zugleich Teil jener Selbstverständigung, die urbane Identitäten verhandelte. Insgesamt zeigt sich, dass eine wissensgeschichtliche wie wissenskulturelle Erweiterung von Wissenschaftsgeschichte hin zur Historisierung von Praktiken und Zirkulationen in ihren Einbettungen in regionale Kontexte nicht zu lediglich regionalen Fachgeschichten führt, sondern Aufschlüsse darüber erbringt, aus welchen sozialen und kulturellen Konfigurationen heraus Stadtgesellschaft mit ihren Eigenlogiken sich konstituiert.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Die Sammlung als räumliche Praxis. Das Beispiel der volkskundlichen Sammlung von Adolf Schlabitz. In: Friedrich von Bose/Kerstin Poehls/Franka Schneider/Annett Schulze (Hg.): Museumx. Zur Neuvermessung eines mehrdimensionalen Raumes. Berlin 2011 (= Berliner Blätter 57), S. 119-130
    Franka Schneider
  • Die temporäre Verdorfung Berlins. Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900. In: Tobias Becker/Anna Littmann/Johanna Niedbalski (Hg.): Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900. Bielefeld: transcript 2011, S. 196- 228
    Franka Schneider
  • Historischer Horizont oder Gegenwartsempirie? Die Grenzen der Feldforschung. In: Reinhard Johler u.a. (Hrgs.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21. bis 24. September 2011. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2013, S. 225-233
    Leonore Scholze-Irrlitz
  • Berliner und Urberliner: Zur Tribalisierung des Urbanen. In: Nentwig, Franziska/ Bartmann, Dominik (Hg.): BERLIN_macher. 775 Portraits – ein Netzwerk, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Bielefeld/Berlin 2012, S. 158-167
    Wolfgang Kaschuba
  • Auf der Suche nach dem idealen Bauernhoftyp. Überlegungen zur Formatierung von Wissen in einem Architekturwettbewerb 1941. In: Markus Tauschek (Hrsg.): Kulturen des Wettbewerbs. Formationen kompetitiver Logiken. Münster u.a.: Waxmann 2013, S. 129-153
    Sabine Imeri
  • Historische Ethnografie als reflexiver Forschungsmodus. In: Reinhard Johler u.a. (Hrgs.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21. bis 24. September 2011. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2013, S. 213-224
    Sabine Imeri/ Franka Schneider
  • Welt-Anschauliches: Jedem sein Museum? In: Tietmeyer, Elisabeth/ Ziehe, Irene (Hg.): Museum – Forschung – Vernetzung. Symposium für Konrad Vanja, Berlin u.a. 2013, S. 11-20
    Wolfgang Kaschuba
  • Zur Wissensgeschichte der Europäischen Ethnologie als sozialer Kulturwissenschaft. Das Paradigma „Ländliche Gesellschaft“ (Habilitationsschrift, Mai 2013)
    Leonore Scholze-Irrlitz
 
 

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