Regionale und geografische Gemeinschaftsbegriffe im Musikschrifttum des Mittelalters (ca. 900 bis 1400)
Mittelalterliche Geschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Dem Projekt ging es darum, regionale und geografische Gemeinschaftsbegriffe und -konzeptionen, die im Musikschrifttum anzutreffen sind, zu interpretieren, d. h. den Fragen nachzugehen, welche Gemeinschaften überhaupt gemeint sind und wie ihre Kohärenz begriffen wird, mit welcher Intention sie im Musikschrifttum auftreten sowie welche musikalischen Praktiken mit ihnen möglicherweise korrespondierten. In dem Projekt wurden sämtliche vom Thesaurus Musicarum Latinarum erfassten Quellen lateinischen Musikschrifttums aus der Zeit zwischen 900 und 1400 nach Gentes-Namen abgesucht und interpretiert. Dabei ergaben sich zwei allgemeine Erkenntnisse: Zum einen besitzen die Aussagen über Gemeinschaften einen hohen Realitätsgehalt, d. h. ihre Verwendung ist nicht bloß topisch oder illustrativ, wie bei oberflächlicher oder skeptizistischer Betrachtung hätte vermutet werden können. Die Quellen geben daher konkrete Hinweise auf die topografische und identitätsspezifische Verfassung der mittelalterlichen Musik und Musiktheorie. Zum anderen stellen Gemeinschaftsbegriffe einer „mittleren“ Größe die deutliche Mehrheit dar; beispielhaft formuliert: Gemeinschaften wie Teutonici begegnen sehr viel häufiger als Baiovarii oder Suevi usw. Übergeordnete Begriffe spielen eine noch geringere Rolle: Weder wird Europa thematisiert, noch ist die Westkirche als Gemeinschaft im Musikschrifttum präsent. (Dies schließt natürlich nicht ihre implizite Bedeutung aus.) Die weiteren Ergebnisse lassen sich nicht gleichermaßen verallgemeinern. Denn jede einzelne Textanalyse hat selbstverständlich Ergebnisse zu Tage gefördert, die die Quelleninterpretation in jedem Einzelfall voranbringen, aber nicht generalisierbar sind. Wohl lässt sich eine Typologisierung der Verwendungsweisen von Nationes-Begriffen zusammenfassen, die sich hinter den Einzelfällen abzeichnet: Diese begriffe beziehen sich (1) auf Sprachen, (2) auf musikalische Gebräuche und Gewohnheiten, sie übernehmen (3) eine symbolische Funktion, oder sie dienen (4) der Beschreibung eines historischen Kontextes. Naturgemäß bildet die zweite Gruppe – jene Texte, die musikalische Bräuche und Gewohnheiten beschreiben – die weitaus größte. Sie wurde nochmals unterteilt in eine Gruppe von Texten, die (2a) regionale, kulturelle Charakteristika wertneutral beschreiben, und solche, die (2b) dies wertend vornehmen. Die Zeugnisse beziehen sich auf sämtliche Arten von Musik, den liturgischen Choral, die mehrstimmige Musik und deren Theorie, insbesondere die Notationspraxis, aber auch volkstümliche Musik (die Normandie bei Johannes de Grocheio). Die in diesem Jahr abzuschließende Studie wird einerseits diese Ergebnisse darstellen; zum anderen wird sie als Nachschlagewerk nutzbar sein, indem sowohl Autoren bzw. Texte als auch Gentes-Namen über ein Register aufzufinden sein werden, so dass für die Interpretation der betroffenen Textstellen ein hoffentlich weitreichendes Hilfsmittel zur Verfügung stehen wird. Überdies hoffen wir, einen Beitrag zur Topografie der mittelalterlichen Musik geleistet zu haben.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Die „mos … veteranorum cantorum“ des Aurelianus Reomensis und die Stellung der gallikanischen Liturgie im Westfrankenreich des späten 9. Jahrhunderts, in: Music and the Construction of National Identities in the 19th Century, Baden-Baden 2010, S. 89-101
Winkelmüller, Marie
-
Itali und Longobardi in den musiktheoretischen Schriften Theogers von Metz und Aribos, in: Music and the Construction of National Identities in the 19th Century, Baden-Baden 2010, S. 225-247
Wiegand, Gunnar
-
Nationsbegriffe in der mittelalterlichen Musiktheorie, in: Music and the Construction of National Identities in the 19th Century, hg. von Beat Föllmi, Nils Grosch und Matthieu Schneider, Baden-Baden und Bouxwiller 2010, S. 17-33
Hentschel, Frank
-
„Ille Teutonicus, iste vero Gallus“. Volksgruppe und Mentalität bei Guido von Arezzo, in: Musik des Mittelalters und der Renaissance. FS Klaus-Jürgen Sachs, Hildesheim u. a. 2010 (Studien zur Geschichte der Musiktheorie 8), S. 49-57
Hentschel, Frank
-
Johannes Boen und die zweifelhaften Gesangskünste der Alemanni, in: Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter, Berlin: de Gruyter, 2014, S. 173-185
Hentschel, Frank
-
Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter, Berlin: de Gruyter, 2014, 472 S.
Hentschel, Frank und Marie Winkelmüller (Hg.)