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Mohammed in Avignon. Der Islam zwischen Papsttum und religiosen Gemeinschaften im 14. Jahrhundert.

Fachliche Zuordnung Mittelalterliche Geschichte
Förderung Förderung von 2009 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 125644650
 
Erstellungsjahr 2012

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Rahmen dieses Teilprojektes wurde die Frage nach (anti)häretischer Literatur in der päpstlichen Bibliothek Benedikts XIII. gestellt. Zur Untersuchung dieser Frage wurden gemäß dem Arbeitsplan des Projektes die mittelalterlichen Kataloge der Bibliothek analysiert, die 1991 von Jacques Monfrin und Marie-Henriette Jullien de Pommerol ediert wurden. Hinzugezogen wurden die Katalogeditionen von Franz Ehrle für den Bibliothekskatalog des Kardinals Pedro de Luna und von Maurice Faucon für den ersten Katalog der „Libraria maior“ von Peñíscola, für welche bisher keine neueren Editionen vorliegen. Die auf Juden und Muslime bezogenen Schriften, die für dieses Projekt im Zentrum des Interesses standen, wie etwa der Koran, die beiden Talmud, der „Dialog“ des Petrus Alfonsi, der „Pugio fidei“ des Raymond Martí u.a., wurden in ihrem Ort innerhalb der Ordnung der Gesamtbiblio-thek bestimmt und interpretiert. Das Projekt läuft noch bis zum 31.10.2011. Die Projektbearbeiterin hat bei einem ersten Bibliotheksaufenthalt an der Bibliothèque nationale de France (2010) die aus der Abteilung der (anti-)häretischen Literatur in der Bibliothek Benedikts XIII. bislang identifizierten Kodizes eingesehen. Dabei hat sie weitere, in ihnen enthaltene religionspolemische Traktate identifiziert. Bei einem zweiten Bibliotheksaufenthalt an derselben Stelle (März 2011) konnte eine erste Verbindung zwischen der mittelalterlichen Katalogordnung und der Struktur der Textproduktion Benedikts XIII. nachgewiesen werden. Die Ergebnisse dieses Projekts lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Es ließ sich eine erste Arbeitsthese, nämlich die These von einer umfangreichen Spezialbibliothek religionspolemischer Literatur innerhalb der Bibliothek Benedikts XIII., nicht in dem Sinne bestätigen, dass die religionspolemischen Schriften innerhalb der Gesamtbibliothek einen signifikanten Umfang eingenommen hätten. Diese Sammlung ist zwar im Verlauf des Pontifikats angewachsen, und als spanischstämmiger Adliger hatte Pedro de Luna ein wachsameres Auge auf die Religionsthematik gerichtet als seine unmittelbaren Vorgänger in Avignon. Aber andere Themengebiete wachsen in der Bibliothek deutlich stärker: die Literatur zum Kirchenrecht, die humanistische Literatur, und ganz neu entsteht etwa eine Sammlung zur Medizin. Das Thema der Religionsvielfalt ist für Benedikt XIII. ausschließlich bedeutend im Rahmen seiner eigenen Legitimationsstrategie. 2. Damit wird eine zweite Arbeitsthese des Projektes voll bestätigt. Das Religionsthema ist für Benedikt XIII. zwar nur im Kontext der Schismafrage bedeutend, dort aber besitzt es seinen festen Platz. Wie tief diese Verbindung geht, zeigte sich im Verlauf der Untersuchungen nicht nur in Bezug auf die vom Projekt anvisierten Bücherverzeichnisse, aus denen sich verfolgen lässt, wann der Bibliotheksbesitzer welche Bücher in seinen engeren Arbeitsbereich einstellte, wann er sie wieder in die allgemeine Sammlung aussortierte, und wo welche Themengebiete in den Bibliotheksschränken nebeneinander plaziert wurden. Im Verlauf der Arbeiten ergab sich, dass die Verbindung von Religionsthema und Schismafrage auch in den einzelnen Kodizes zu sehen ist, und zwar so, dass die Schismafrage durch die Kategorie der „persönlichen Legitimationsstrategie“ nur unzureichend erfasst ist, weil wir es mit institutionellen, ekklesialen Reflexionskontexten zu tun haben. Ein Beispiel dafür bietet etwa Paris BnF, ms. lat. 4230. In dieser Handschrift aus der Bibliothek Benedikts XIII. finden sich zunächst folgend auf den Traktat „De ecclesiastica potestate“ Alexanders de Sancto Elpidio zwei Bibelkommentare desselben Autors und einige Traktate verschiedener Autoren zu theologischen Themen, und dann „Religionsschriften“: der „Tractatus contra caecitatem Iudaeorum“ des Bernard Oliver, der „Tractatus contra saracenos“ des Ricoldo de Monte Crucis und die „Improbatio Alcorani“ desselben Autors. Diese kodikologische Struk-tur ist als materiale Kontextualisierung der Religionsfrage zu betrachten. Die Religionsfrage wird nicht als spekulatives Thema verhandelt, sondern steht im Kontext der kirchlichen Rechtsfrage. Dies zeigen auch die Einträge des betreffenden Kodex in den Katalog der Avignoneser Bibliothek: Keiner der Ein-träge enthält einen Hinweis auf den religionsbezogenen Inhalt. Das heißt, der religionsbezogene Inhalt war für den Benutzer des Kodex kein ‚ausgezeichneter‘ Inhalt. Vielmehr war der Eintrag, unter dem dieser Kodex geführt wurde, in diesem Fall der Titel des ersten Traktats „De ecclesiastica potestate“. Das lässt sich bereits für den Zeitpunkt feststellen, zu dem der Kodex als Teil der päpstlichen Bibliothek in den Besitz Benedikts überging. Der Kodex erscheint im Verzeichnis der auf der Flucht 1405-1408 transportierten Bücher (Nr. 297), im ersten Verzeichnis der Bibliothek Benedikts XIII. in Peñíscola 1412-1415 (Nr. 1078), und im nach dem Tod des Papstes erstellten Inventar der „Libraria maior“ von 1423 (Nr. 1140). Mit Blick auf einen solchen Befund steht zu erwarten, dass durch die Identifikation weiterer Manuskripte aus der Bibliothek Benedikts XIII. noch mehr religionspolemische Schriften gefunden werden, die im Eintrag des betreffenden Kodex im mittelalterlichen Katalog hinter einem anderen Titel verborgen und so als religionspolemische Schriften im Katalog nicht sichtbar sind. 3. Ein über den Antrag hinausgehendes Ergebnis bezieht sich auf das Verhältnis der Religionsfrage als „Spezialfall der Häresiologie“ zu den anderen, in der Bibliothek thematisierten frühkirchlichen und zeitgenössischen „Häresien“. Im Verlauf des Projekts hat sich immer mehr gezeigt, wie differenziert die Frage nach Häresien für diesen Buchbestand gesehen werden muss. Es ist zwar in den Katalogen und Inventaren durchgängig mindestens eine eigene Abteilung für „Häresien“ in der Bibliothek zu finden, die zweimal in der Ordnung des Katalogs ausdrücklich so bezeichnet wird (vor 1394: „libri heresum“, 1405-1408: „libri heresum et judeorum“), und die darüber hinaus, nach Analyse der Kataloge, in sieben weiteren Fällen als Zusammenstellung deutlich zu erkennen ist, ohne dass für die Abteilung ein Titel eigens genannt ist (nämlich im Inventar des Studiums von 1405-1407; im Katalog der „Libraria maior“ in Peñíscola von 1412-1415; in einer separaten Bücherliste am Ende des Transportverzeichnisses von 1405-1408; in Form von zwei Abteilungen in einem weiteren Transportverzeichnis von ca. 1409; und schließlich, ebenfalls in Form von zwei Abteilungen, im Verzeichnis der Bücher in Peñíscola aus der „Libraria maior“ nach dem Tod Benedikts XIII. von 1423). Aber die dort verschiedentlich mitgelistete Literatur etwa zum „Armutsstreit“ oder auch die Literatur „Contra Graecos“ haben innerhalb der Struktur-entwicklung dieser Bibliothek eine je eigene Geschichte, die auf ihren unterschiedlichen Gebrauch schließen lässt. Darüber hinaus findet sich immer wieder auch außerhalb dieser „Abteilungen“, mitten in unter ganz anderen Gesichtspunkten zusammengestellten Büchergruppen, einzelne oder auch in Kleingruppen versammelte (anti-)häretische Literatur. Sie ist also, obwohl es eine eigene Abteilung gibt, in die sie insgesamt eingestellt werden könnte, auch verstreut. Sie geht aber nicht strukturlos im Bestand auf. Es lässt sich, ähnlich wie für das oben genannte Religionsthema, beobachten, dass die verschiedenen „Häresien“ jeweils bestimmten anderen Gebieten zugeordnet wurden. Hier ließen sich beispiels-weise in anderem Kontext eine Reihe weiterer Spezialuntersuchungen zur Rezeption der Kirchenväter im Avignoneser Papsttum, zur Rolle der Orden oder zur Bibellektüre auf der Grundlage des bibliothekarischen Befundes anschließen. 4. Für wesentlich erachten wir eine weitere Beobachtung: Der paläographisch-kodikologische Befund ergänzt und korrigiert unsere Vorstellung vom Gebrauch der Literatur innerhalb der Avignoneser Bibliothek. Beispielsweise zeigt ein rezeptionsgeschichtlich als randständig erscheinender Text durch die aufwendige Gestaltung in der Handschrift, dass der damalige Hersteller des jeweiligen Kodex ihm eine hohe Bedeutung zugewiesen hat (siehe z. B. Hs. Paris BnF, lat. 1476); bzw. ein Text, der uns heute in Kenntnis des historisch-politischen Kontextes verzweifelt ernst erscheint, offenbart durch den paläo-graphisch-kodikologischen Befund eine „Auffassung“ zumindest des Schreibers nicht ohne Humor (siehe z.B. Hs. Paris BnF, lat. 1474). Daraus ist zu schließen, dass für die Beurteilung des Gebrauchs der Literatur in der Bibliothek der an der einzelnen Handschrift zu beobachtende paläographisch-kodiko-logische Befund unverzichtbar ist. 5. Nicht zuletzt wurden im Verlauf dieses Projektes auch für den Bereich der bibliothekswissenschaftlichen Hermeneutik Begriffs- und Methodenklärungen erreicht. Diese betreffen zum Beispiel die genauere Verhältnisbestimmung von Individuum (Pedro de Luna/Benedikt XIII. als individueller Nutzer und Besitzer der Bibliothek) und Amt (Benedikt XIII. als Papst mit Kurie und die damit verbundene Nutzung der Bibliothek) innerhalb einer „benutzerbezogenen“ Bibliotheksinterpretation. Dies wurde insbesondere ermöglicht durch die Assoziierung der Bearbeiterin in die interdisziplinäre Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Erfurter Max-Weber-Kolleg. Auch hinsichtlich der Frage eines komparatistischen Ansatzes auf dem Feld der Erforschung historischer Buchbestände und speziell der „päpstlichen Bibliothek“ konnte dank dem wissenschaftlichen Austausch mit Gilbert Fournier, der sich im Rahmen seiner Pariser Dissertation „Une ‚bibliothèque vivante“. „La libraria communis du collège de Sorbonne (XIIIe–XVe siècle) (École Pratique des Hautes Études, 14. Juni 2007)“ mit der Interpretation spätmittelalterlicher Bibliotheksbestände, insbesondere der Pariser Universitätsbibliotheken, beschäftigt hat, grundsätzliches Einvernehmen erreicht werden.

 
 

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