Traum, Mantik, Allegorie. Die Sprache der Bilder und Zeichen in Artemidors Oneirokritika und Aelius Aristides' Hieroi Logoi
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Mittelpunkt der Arbeit steht eine Sammlung von sehr persönlich gehaltenen Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr., die sog. "Hieroi Logoi", in denen der aus Hadrianoi in Mysien stammende Redner Publius Aelius Theodorus Aristides von seinen zahlreichen Aufenthalten in Heilsgotttempeln sowie den auf seinen Reisen empfangenen Träumen berichtet. Es ging mir darum, diese insbesondere in der älteren Forschung nicht selten als Expektorationen eines Neurotikers missverstandene Schrift vor dem Hintergrund einer reichen Tradition von Texten zu Traum und Traumdeutung neu zu beleuchten. Berücksichtigt wurden einerseits Texte und Traktate zu Traumtheorie und Traumdeutung, andererseits literarische Traum- und Visionsschilderungen, angefangen vom Er-Mythos in Platons "Politeia" über den plutarchischen Timarch-Mythos bis hin zu den Traumerzählungen in den "Dionysiaka" des Nonnos, wobei der Schwerpunkt stets auf der Behandlung der Traumberichte des Aelius Aristides lag. Als besonders ergiebig erwies es sich, die literarischen Texte mit Hilfe jener Methoden zu analysieren, die uns in Traumdeutungshandbüchern, namentlich den "Oneirokritika" des Artemidor, an die Hand gegeben werden. In Anwendung auf die "Hieroi Logoi" führte diese Methode zu der in der Forschung erstmalig angestellten Beobachtung, dass es sich bei den hier wiedergegebenen Traumberichten um allegorisch verschlüsselte Beschreibungen initiatorischer Erlebnisse handelt. Das Potential mysteriöser Verschleierung, das bereits im Titel enthalten ist - wurden doch als "hieroi logoi" u. a. auch Mysterientexte bezeichnet, die von den Initianden geheim zu halten waren -, hat Aristides, wie sich zeigte, in seinen "Heiligen Berichten" voll ausgeschöpft. Anhand von zahlreichen Interpretationen einzelner Traumepisoden konnte dargetan werden, wie der Autor den Bilderreichtum und den allusiven Charakter von Träumen nutzt, um die initiatorischen Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt sowie den Gegensatz zwischen einem als feindlich empfundenen Schicksal und der Vorsehung ("Pronoia") wohlwollender Götter in immer neuen Variationen zu beschreiben. Im Lichte der vereinzelt eingestreuten 'astrologischen Träume' erwiesen sich als Exponenten dieses Gegensatzes von Schicksal und "Pronoia" das vom Sternenzwang, der "asteriké", Verhängte und die diesen Zwang im Zuge des Einweihungsgeschehens wirksam durchbrechenden Heilsgottheiten Asklepios und Sarapis. Die Beobachtung, dass wir in den Traumerzählungen der "Hieroi Logoi" eigentlich bildreiche Berichte von Einweihungserlebnissen vor uns haben, ließ sich auch ihrerseits noch einmal mit dem Titel "Hieroi Logoi" stützen, denn die Bezeichnung "hieros logos" wird, wie wir es am Beispiel des Timarch-Mythos aus dem plutarchischen Dialog "De genio Socratis" sahen, auch für jene Berichte verwendet, in denen die Mysten ihre im Zuge von Weiheerlebnissen empfangenen Offenbarungen niederschrieben, um sie daraufhin als Votivgabe in den Tempelbibliotheken zu hinterlegen. Es konnte gezeigt werden, dass dieser Kontext von Votivreligion den Hintergrund nicht nur für die "Hieroi Logoi" abgibt, sondern für das Schaffen des Aristides in allen seinen Formen, beschreibt doch der Autor seine literarische Tätigkeit wiederholt als ein Dankopfer an die Götter; ein Gedanke, den er in seinem Traktat "Zur Verteidigung der Redekunst" auf eine mythische Erzählung zurückführt, der gemäß die Erbringungen der Rhetorik als ein Dankopfer für die den Menschen vom Gott Hermes überbrachte Gabe des "logos" aufzufassen seien. Alles in allem erweist sich Aristides in dieser Arbeit als ein nicht nur aufgesetzt religiöser, sondern tief in den Grundgedanken antiker Mysterien verwurzelter Redner, der die "Hieroi Logoi" für diejenigen, die über ein geschärftes Hörvermögen verfügen und zugleich das Ideal des gebildeten Menschen, des "pepaideuménos", in einer Weise verkörpern, die es ihnen gestattet, auch noch entlegene literarische Anspielungen zu erkennen, zu einem Initiationsitinerar werden lässt, auf dem sie gemeinsam mit dem Autor wiederholt die Höhen und Tiefen von Tod und Wiedergeburt durchschreiten.