Kollektive Getreidespeicherburgen in Nordafrika zwischen baulichem Verfall, Erhalt als Kulturerbe und touristischer Umwidmung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Es gibt in Nordafrika, vom marokkanischen Antiatlas bis zum libyschen Dschebel Nefousa, eine kulturhistorische Erscheinung, die als „Getreidespeicherburgen“ (greniers collectifs) bekannt ist. Diese baulichen Objekte sind funktional erstaunlich ausgeklügelt und stellen eine geniale Anpassungsleistung an schwierige landwirtschaftliche Produktionsbedingungen dar. Das Projekt mit seinen Vergleichsregionen „südöstliches Tunesien“ und „westlicher marokkani-scher Antiatlas“ identifiziert zunächst alle diese Getreidespeicherburgen (Bezeichnung Agadir, Guelâa, Ksar, Gasr: 92 in Südosttunesien, 105+77 im Antiatlas) in ihrer räumlichen Verbreitung und beschreibt sie in ihrer Beziehung zu den klimatischen Bedingungen, ihren (früheren) Funktionen, ihrem weitgehend berberischen Entstehungsumfeld und ihrer (heutigen) physiognomischen Ausprägung. Dieser Analyseschritt einer „Inventur“ erbringt das überraschende Ergebnis, dass zwar in Tunesien sämtliche Getreidespeicher nicht mehr ihre frühere Funktion aufweisen, in Südmarokko allerdings noch etwa ein Drittel dieser Speicher in Funktion ist! In baulicher Hinsicht lassen sich die südtunesischen Tonnengewölbe und die südmarokkanischen Bruchsteingebäude unterscheiden. In spiritueller Hinsicht ist für die südtunesischen Speicher keine religiöse Funktion erkennbar; in Südmarokko dagegen werde sie als horoum (als heilige Plätze) wahrgenommen. Hinsichtlich ihrer Funktion zur Verteidigung gegen mögliche Aggressoren weisen die meisten marokkanischen Speicher ein doppeltes Mauersystem auf, während in Südtunesien stets nur ein Mauerwall nachzuweisen ist. Sowohl in baulicher Hinsicht als auch in ihrer sozialen Organisation lassen sich die Getreidespeicherburgen als effiziente Leistung der lokalen Bevölkerung zur Sicherstellung des Überlebens unter prekären Rahmenbedingungen aufzeigen. Der bauliche Verfall dieser kulturlandschaftlichen Erscheinung höchster Attraktivität wird detailliert beschrieben. Dem Verfallsprozess steht die in beiden Ländern eine veränderte Wahrnehmung der Getreidespei-cherburgen gegenüber. Sie werden in den Ländern selbst wie auch auf internationaler Ebene als Objekte eines patrimoine culturel (Kulturerbes) neu interpretiert und deshalb in Tunesien in der Mehrzahl der Fälle bereits baulich restauriert, aber ohne Funktion. In Südmarokko gibt es nur wenige staatlicherseits restaurierte Objekte. Vielmehr dominieren die Reparaturen der Besitzer, die diese Speicherburgen weiterhin nutzen. Doch parallel hierzu gibt es eine Bewegung von kulturell Interessierten aus der Region und sogar nostalgischen Kleinunternehmern, die für den Erhalt der Speicherburgen (meist mit bescheidenen Mitteln und ohne systematisches Konzept) kämpfen. Auch ein Kulturtourismus, der im angelsächsischen Raum Heritage-Tourismus genannt wird, keimt auf und stärkt die feststellbaren Schutz- und Erhaltungsaktivitäten. In Tunesien hat dieser Tourismus bereits eine erste Tradition in der Kolonialzeit nach 1900. Er war dann in den 1960er Jahren etwas bedeutender, doch nicht sehr erfolgreich, weil das angebotene Produkt nicht den Erwartungen der Touristen entsprach. Heute keimt dieser Tourismus in modifizierter Form nach dem arabischen Frühling wieder neu auf, befindet sich aber erst in einem Frühstadium. Im marokkanischen Antiatlas wird erst seit gut einem Jahrzehnt, von Marokkanern und Ausländern, wahrgenommen, welches wertvolle, schützenswerte und behutsam für den Tourismus erschließbare Kapital hier schlummert. Die bereits nachweisbare Nutzung ist gering; die Heiligkeit der Orte muss von ihm respektiert werden. Auf der Basis der erfolgten Forschungen mit den tunesischen und marokkanischen Kollegen haben unsere Teams argumentativ begründet, worin die außergewöhnliche kulturelle Leistung dieser Spei-cher liegt und dafür plädiert, die Regionen mit den Speichern jeweils zu einer „schützenswerten Kulturlandschaft mit Weltkulturerbestatus“ zu machen. Tunesien hat daraufhin bereits einen Antrag bei der UNESCO eingebracht; für Marokko erhoffen wir das Gleiche. Es handelt sich in der Tat um ein herausragendes Beispiel einer kulturlandschaftlichen und wirtschaftlichen Anpassungs-leistung der berberischen Bevölkerung Nordafrikas, die der Nachwelt erhalten bleiben sollte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Les ksour du Sud tunisien. Atlas illustré d'un patrimoine culturel. Bayreuth 2010: Naturwiss. Gesellschaft Bayreuth. 400 S.
Herbert Popp & Abdelfettah Kassah
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Les agadirs de l'Anti-Atlas occidental, Atlas illustré d'un patrimoine culturel du Sud marocain. Bayreuth 2011: Naturwiss. Gesellschaft Bayreuth, 500 S.
Herbert Popp, Mohamed Ait Hamza & Brahim El Fasskaoui