Öffentlichkeiten und Gewalt in Zentralamerika
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die systematische Erschließung und Generierung von Quellen in medialen, alltäglichen, politischen, wissenschaftlichen und juristischen Diskursräumen hat in der ersten Projektphase einen Materialbestand erzeugt, der die reichhaltige Grundlage für eine mehrstufige Diskursanalyse bildete. Insgesamt konnte die auf wenige Topoi reduzierte Debatte über zentralamerikanische Gewaltentwicklungen durch ein differenziertes Bild ergänzt werden, das die Verbreitung von diskursiven Grundmotiven in nationalen, regionalen und sub-nationalen Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten nachzeichnet. Kongruenzen und Inkongruenzen verschiedener Diskursebenen konnten dabei ebenso nachgewiesen werden wie die Zusammenhänge von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Zentrale Schlussfolgerungen beziehen sich auf die Bedeutung eines Geflechtes von Disparitäten für die Problemwahrnehmung und die Relevanz von Kriegs-, Migrations- und Armutserfahrungen. Ferner werden sowohl die Dimensionen der Problemwahrnehmung (Tiefe, Chiffren, Ursachenverortung) als auch die Schattierungen der politischen Debatten (politische Polarisierung, Kriminalitätsbekämpfung) beleuchtet. Als ein wesentlicher diskursiver Kern haben sich die Externalisierung von Gewaltursachen und die Formierung nationaler Identitäten herauskristallisiert. In der zweiten Projektphase, die sich auf den neglected case Costa Rica konzentrierte, wurden zentrale Grundannahmen des dominanten Diskurses in ihrer Historizität kritisch hinterfragt. Die Analyse hat gezeigt, dass ein explosionsartiger Anstieg von Kriminalität nicht nachweisbar ist, dass die gesellschaftliche Problemwahrnehmung von Kriminalität nicht wie behauptet erst in den letzten Jahren entstand und dass der zentrale Stellenwert der Gewaltlosigkeit als kollektiver Selbstzuschreibung eine sachliche Debatte über „reale“ Kriminalität erschwert. Die These, dass einschneidende soziale Veränderungen und ein Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik seit den 1980er Jahren ausschlaggebend für die Transformation der Wahrnehmung von Kriminalität und Gewalt als zentraler nationaler Probleme sind, die die soziale Ordnung zu gefährden scheinen und daher repressive politische Maßnahmen erfordern, erweis sich hingegen als fruchtbarer. Zusammenfassend ist zu unterstreichen, dass die Projektförderung es ermöglicht hat, einen alternativen theoretischen und methodischen Zugang zur Gewaltproblematik in Lateinamerika systematisch zu erproben. Der umfassende Datenkorpus, der im Kontext des Forschungsprojektes erschlossen und generiert wurde, machte es möglich, die Frage der diskursiven und kollektiven (Re-)produktion von gewaltsamen Wirklichkeiten erstmals umfassend und in vergleichender Perspektive zu beantworten. Das Projekt hat schon jetzt dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit für Prozesse der sozialen Konstruktion von (Un-)Sicherheit in der Region zu schärfen.