Der ukrainische Dichter Taras Sevcenko als lieu de memoire von 1960 bis heute.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Seit einigen Jahren wird die Erinnerungskultur der Ukraine intensiv erforscht. Allerdings wurde die erinnerungskulturelle Funktion Taras Sevcenkos trotz seiner herausragenden Bedeutung bisher kaum berücksichtigt. Die wenigen überhaupt vorhandenen deutschsprachigen Publikationen zu Sevcenko, die zum großen Teil veraltet sind, widmen sich hauptsächlich der Interpretation seiner Werke und biografischen Fragen. Auch in der außerordentlich umfangreichen ukrainischen Forschung zu dem Dichter sind erinnerungskulturelle Fragestellungen bisher nicht präsentiert worden. Gleichwohl gibt es einige wenige Arbeiten, auf die zurückgegriffen werden konnte. Es handelt sich dabei um die Studien der in Deutschland als Schriftstellerin bekannten, aber auch am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften tätige Oksana Zabuzko und des Kulturwissenschaftlers Oleksandr Hrycenko. Beide gehen in ihren Forschungen auf die Bedeutung Sevcenkos für die Ukraine und den Rückgriff auf seine Gestalt in der kulturellen Selbstverortung ein. Für die nordamerikanische Sevcenko-Forschung ist George Grabowicz zu erwähnen, der in Sevcenkos Werken die Konstruktion eines mythischen Ukraine-Bildes nachwies; dies rief übrigens z.T. emotionale Reaktionen unter ukrainischen Wissenschaftlern hervor, die die Bedeutung Sevcenkos für die ukrainische Nation durch Grabowicz Ansatz in Frage gestellt sahen. Zentral für das Projekt war die Auseinandersetzung mit jenen deutschsprachigen Forschungen zur Ukraine, in denen die kulturellen und sprachlichen Teilungen des Landes in „Ost" und „West" (basierend auf der Prägung der einzelnen Gebiete durch die ehemals unterschiedliche territoriale Zugehörigkeit zum Russischen Reich und zur Habsburger Monarchie) betont werden. Es konnte gezeigt werden, dass diese Vorstellung im Falle Sevcenkos als lieu de memoire nicht greift. Hier haben stark divergierende Vergangenheitsdeutungen - anders als sonst - eine integrative Funktion. Dieser Befund steht der Überzeugung von den „zwei Ukrainen" entgegen, die nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs zu Ukraine, sondern auch in der Berichterstattung in den Medien in Deutschland dominiert. Bei der Erstellung der Monografie „Mit Taras Sevcenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991" wurde der ursprüngliche Fokus des Projekts erweitert. Zum Materialkorpus kamen neben publizistischen, wissenschaftlichen und literarischen Darstellungen des Erinnerungsortes Sevcenko auch visuelle Darstellungen, Erlässe und Politikerreden hinzu. Hierdurch konnte sichergestellt werden, dass die Komplexität der diskursiven Bezüge in den derzeitigen Debatten um Sevcenko genügend Berücksichtigung fand.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Taras Sevcenko als lieu de memoire bei Ivan Dzjuba. In: Zeitschrift für Slawistik 54/2009, 470-480
Alwart, Jenny
- „Shevchenko forever" - interpretations of the Ukrainian poet as a lieu de memoire before and after 1991. In: Engel, Ulf, Middell, Matthias (eds): World Orders Revisited, Leipzig 2010 (Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3), 269-279
Alwart, Jenny
- „Umdeutung des 'nationalen Heiligtums'. Aktuelle erinnerungskulturelle Kontroversen um Taras Schewtschenko". In: ukraine-analysen Nr. 81/2010, 26.10.2010, 2-7
- Sevcenko upgraded. Wie aus dem Nationaldichter der Ukraine ein „Staatslenker" wird. In: Mitropa Nr. 2, 2011, 52-54
Alwart, Jenny
- Wiederbegegnung mit dem Henker. Der Hitler-Stalin-Pakt und die Bukowyna in der ukrainischen Gegenwartsliteratur. In: Kaminsky, Anna, Müller, Dietmar, Troebst, Stefan (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939. Pakt über Europa. Wallstein-Verlag Göttingen 2011 (Moderne europäische Geschichte 1), 459-470
Alwart, Jenny
- Mit Taras Sevcenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991. Böhlau-Verlag Köln, Weimar, Wien 2012 (Visuelle Geschichtskultur 8)
Alwart, Jenny