Flexionsmorphologische Irregularität(en) in "aktuellen" Kontaktvarietäten slawischer Sprachen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt hebt auf den Kontakt des Weißrussischen (W) bzw. Ukrainischen (U) mit dem Russischen (R) sowie des Kaschubischen (K) bzw. Lemkisch-Rusinischen (L) mit dem Polnischen (P) ab. Es geht also um Kontakte zwischen strukturell ähnlichen Sprachen. Vereinfacht können die vier Kontaktsituationen hinsichtlich der Ähnlichkeit der beiden Kontaktsprachen hierarchisiert werden: W≈R > U≈R > K≈P (>) L≈P. Die Kontaktgebiete sind einerseits Weißrussland und die Ukraine. Hier ist das Russische die dominante Sprache; in der Ukraine verliert es seit 1990 an Bedeutung. Andererseits sind in Polen nur die kleinen kaschubischen und lemkischen „Inselareale“ relevant. Die Untersuchung basiert auf vier umfangreichen, annotierten Korpora spontaner mündlicher Rede. Sie erfassen informelle Redesituationen, in denen damit zu rechnen ist, dass die Sprecher auch kontaktbedingte Abweichungen von kodifizierten Normen offenbaren. In der Ukraine und Weißrussland haben sich sogar Namen für die Formen gemischter Rede entwickelt (ukr. Suržyk / wr. Trasjanka). Beim Kaschubischen und Lemkischen geht es um „real praktizierte“ und ggf. vom Polnischen interferierte Varianten. Die durchgeführten Korpusanalysen zeigen, inwiefern die jeweils dominanten Sprachen die Flexionsmorphologie der informellen Rede beeinflussen. Die zentrale Frage des Projekts lautet, inwieweit die konstatierten Phänomene von einer „Tendenz zur Regularisierung“ morphologischer Paradigmen zeugen. Es geht um eine verbreitete Annahme, dass sich im Sprachsowie Dialektkontakt die reguläreren, „natürlicheren“ Strukturen durchsetzen. Für den Kontakt zwischen strukturell unterschiedlichen Sprachen ist dieser Standpunkt von S. Thomason angegriffen worden. Sie argumentiert, solche Regularisierungen würden von soziolinguistischen Aspekten wie Prestige und sozialer Dominanz überlagert. Im Konfliktfall obsiege das Strukturelement der dominanten Sprache. Für den Kontakt zwischen eng verwandten und strukturell ähnlichen Sprachen sowie für den Dialektkontakt ist die Frage wenig diskutiert. Die Ergebnisse der Studie betreffen im Wesentlichen die Präferenzen unterschiedlicher Endungen und / oder Stämme (in flektivischen Stammalternationen) aus den beiden Gebersprachen. Hervorzuheben ist dabei, dass in den verwandten Sprachenpaaren in vielen paradigmatischen Positionen zahlreiche gemeinsame Stämme und / oder Endungen vorliegen. (A) Es lässt sich eine deutliche Hierarchie im Ausmaß des Einflusses der jeweils dominanten Gebersprache feststellen. Und zwar: wr. Trasjanka > ukr. Suržyk, > real praktiziertes Kaschubisch bzw. Lemkisch. Dies korreliert zwar grob mit der hierarchischen Abstufung des strukturellen Abstandes. Dennoch dürften soziolinguistische Gründe (und Punkt B unten) wichtiger sein: Das Weißrussische spielt für die überwältigende Mehrheit der Weißrussen im Alltag keine Rolle mehr. In der Ukraine ist die Lage zwar ähnlich, aber das Ukrainische ist weiter im Westen noch sehr lebendig; zum Osten hin ergibt sich eine Annäherung an weißrussische Verhältnisse. Kaschubisch und Lemkisch hingegen funktionieren in den verbliebenen kleinen Sprechgemeinschaften noch sehr stabil. (B) Es lässt sich ein klarer Zusammenhang zwischen lexikalischer Entlehnung und morphologischer Beeinflussung von Seiten der dominanten Sprache feststellen. Selbst die wr. Trasjanka zeigt z.B. nur ganz sporadisch eine russ. Endung bei wr. Stämmen, die zum semantisch äquivalenten russ. Stamm in einem quasi-suppletiven Verhältnis stehen. Gemeinsame Stämme zeigen schon sehr viele russ. Endungen, russ. (also entlehnte) Stämme überwiegend russ. Endungen. Im ukr. Suržyk treten russ. Endungen hauptsächlich bei entlehnten russ. Stämmen auf. Im Lemkischen und Kaschubischen werden auch aus dem Polnischen entlehnte Stämme morphologisch stark an die aufnehmende Sprache adaptiert. (C) Auch im Kontakt zwischen eng verwandten Sprachen spielt soziale Dominanz eine größere Rolle als „Natürlichkeit“ bzw. eine Tendenz zur Regularisierung. In der gemischten bzw. interferierten Rede migrieren aus dem Russischen und dem Polnischen Endungen auch dann, wenn der Grad der Unregelmäßigkeit dadurch steigt. Allerdings ist folgende Einschränkung wichtig: Besonders stark ist der Einfluss des Russischen dann, wenn es formal mit weißrussischen oder ukrainischen Dialekten (aber eben nicht mit den jeweiligen Standardsprachen) konvergiert. Insgesamt wird die größere Bedeutung soziolinguistischer Faktoren im Vergleich zu Regularisierungstendenzen auch für den Kontakt zwischen den eng verwandten Sprachen bestätigt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Der morphologische Ausdruck des Präteritums im Sprachkontakt: Der Fall des Lemkischen und Kaschubischen. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch. Neue Folge 1 (2013), 99-128
Menzel, Th.
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Flexivische Variation bei Verben in der weißrussisch-russischen und ukrainisch-russischen gemischten Rede. In: Zeitschrift für Slawistik 59/2 (2014), 238-275
Menzel, Th.
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Reguljarnost' morfologičeskoj sistemy v uslovijach jazykovogo kontakta: primer belorussko-russkoj i ukrainsko-russkoj smešannoj reči. In: Zbornik Matice srpske za slavistiku 85 (2014), 23-38
Menzel, Th.
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Belarusian vs. Russian, regularity vs. irregularity in adjective and adverb comparison of mixed speech in Belarus. S. 319-352, in: Stolz, Chr. (ed.): Language Empires in a Comparative Perspective. Berlin, de Gruyter, 2015. 978-3-11-040818-8
Menzel, Th.
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Flexionsmorphologie im Sprachkontakt verwandter Sprachen: Zum Genitiv Plural der Substantive in nordslavischen Kontaktsituationen. In: Die Welt der Slaven, 60/1 (2015), 90-117
Menzel, Th.
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im Druck: Zum Einfluss des Russischen auf die Flexionsmorphologie der weißrussisch-russischen und ukrainisch-russischen gemischten Rede. In: Wiener Slawistischer Almanach 75(2015), 123–158
Menzel, Th., G. Hentschel