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Das Wörterbuch wechseln. Eine Diskursgeschichte der deutsch-niederländischen Grenze

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2009 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 159033983
 
Erstellungsjahr 2013

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Die Wahrnehmung der Staatsgrenze und das grenzbezogene Handeln weisen bei den Grenzanrainern eine Reihe von Paradoxien auf: ► Die Betonung der staatlichen Souveränität an den Staatsgrenzen führt, insofern sie besondere Erschwernisse für die Grenzbewohner erzeugt, gerade zu einer Praxis der Selbstorganisation, die vom individuellen Schmuggel bis zur transborder diplomacy reicht und auch bei konservativen Menschen in der Ausbildung eines herrschaftsfeindlichen Identitäts-Registers resultieren kann. ► Der ‚offiziöse‘ Diskurs vom Raum Aachen-Lüttich-Maastricht als „Land ohne Grenzen“ geht einher mit einer Betrachtung derselben Region als „Laboratorium für die europäische Einigung“, was ja die Existenz von Grenzen zunächst voraussetzt. ► Der Abbau von Hindernissen und kulturellen/ökonomischen Gefällen beiderseits der Grenze führt nicht zu einer Zu-, sondern eher zu einer Abnahme grenzüberschreitender Kontakte. ► Just im Medium ihrer diskursiven Leugnung (durch Denkmale, Hinweistafeln und dgl.) wird die Grenze überhaupt sichtbar. ► Der Diskurs über den Abbau von Grenzen ist ohne weiteres zum Zwecke der Errichtung neuer symbolischer Grenzen instrumentalisierbar und kann geradezu für xenophobe Motive eingespannt werden, wenn ‚exotische‘ Akteure in der Grenzregion erscheinen. Eine allgemeine Periodisierung der Grenzgeschichte ab 1945 ist (anders als bei Projektbeginn angenommen) nicht sinnvoll. Vielmehr erwies sich in den Teilregionen des untersuchten Grenzabschnitts, dass auf kleinräumlicher Ebene jeweils partikulare Ereignisse diskurs- und wahrnehmungsprägende Kraft entfaltet haben. Dem ist in der historiografischen Darstellung Rechnung zu tragen. Auch die Erfolgsgeschichte des Europa-Dispositivs relativiert sich, wenn man näher ins Feld hineinzoomt. Für Grenzanwohner ging es kaum darum, eine nationale Identität allmählich durch eine europäische Identität abzulösen. Die Komposition kollektiver Identitäten umfasste hier nicht zuletzt auch eine Borderland Identity, bei der das ‚Andere‘ des Identitäts-Kollektivs häufig nicht-territorial definiert wurde: als die Staatsmacht. Grenzbewohner haben die Staatsgrenze stets teils als Hindernis, teils als Möglichkeitsraum wahrgenommen. Wo die Hindernis-Funktion in der Wahrnehmung dominierte, hat man Forderungen nach Abschaffung der Grenzen mit dem Europa-Gedanken begründet, so wie die Diskurse es anboten. Das Europäisierungs-Argument war aber oft rein instrumental motiviert; es war die kleine Transzendenz einer barrierefreien Grenzregion, für welche die große Transzendenz eines vereinten Europas eingespannt wurde. Sobald die Europäisierung unerwünschte Effekte zeitigte, wurde die kleine Transzendenz gegen die große in Stellung gebracht. Die kollektive Identität der Grenzlandbewohner weist – so zeigen vor allem die durchgeführten Interviews – verschiedene Register auf, die situativ aktiviert werden. Die Metapher von „Registern“ der Identität wurde in diesem Projekt entwickelt, um die Komplexität und die Kontextabhängigkeit des Empfindens kollektiver Identität zu verdeutlichen (in ähnlichem Sinne wird auch von fraktaler Identität gesprochen). Wenn das Dispositiv nach Foucault das „Netz“ ist, das Diskurse, Institutionen, Architekturen usw. miteinander verbindet, dann gilt es, auch die ‚Maschen‘ dieses Netzes auf Phänomene des Durchrutschens hin zu beobachten. Eine europäische Identität gehört bis heute, entgegen allen ‚offiziellen‘ Bemühungen, nicht zu der Registratur der ‚einfachen‘ Grenzbewohner, sehr wohl aber ein transnationales Register, das regionalen Zuschnitt hat. Offensichtlich bedienen Menschen sich aus den Angeboten des Dispositivs ebenso (und zwar selektiv), wie sie eigene lebensweltliche Erfahrungen verarbeiten. Die widersprüchliche Logik der so entstehenden Identitäts-Register ist den Menschen meistens nicht bewusst, weil sie in unterschiedlichen Situationen relevant werden. Auch territorial gebundene Identitäts-Register inkludieren einander nicht notwendig, sondern können inkongruente Überlappungen aufweisen. Hierzu bedarf es keiner Euregio, sondern nur der grenzüberschreitenden Alltagspraxis im Borderland Milieu.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Eine Archäologie der „Narben der Geschichte“. Erkundung der deutschniederländischen Grenze zwischen Vlodrop und Vaals. In: Niederrhein-Magazin, Nr.11, Frühling/Sommer 2011. S.3-15
    Rüdiger Haude
  • Transcendente meditaties over de IJzeren Rijn. Grenssymboliek en verzet in Vlodrop-Wegberg. In: Studies over de sociaal-economische geschiedenis van Limburg. Jaarboek van het Sociaal Historisch Centrum voor Limburg. Deel LVI-2011. S.131-153
    Rüdiger Haude
  • Kollektive Identität im Selfkant. 1944/45-1963 – Eine dokumentierende Darstellung. In: Geschichte im Westen, Jg. 27, 2012, S.141-210)
    Rüdiger Haude
  • „Die Annexionsfrage steckt voller Minen“. Briefe an die Annexatie-Enquête-Commissie der Werkgemeenschap Limburg, 1945. In: Christoph Rass und Peter M. Quadflieg (Hrsg.): Kriegserfahrungen im Grenzland. Deutsch-belgische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert (Aachener Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 7). 2013. (Niederländische Übersetzung:) Jaarboek van het Sociaal Historisch Centrum voor Limburg. Deel LVII-2012. Maastricht 2012. S.131-152
    Rüdiger Haude
 
 

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