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Traum und Trauma der digitalen Utopie. Eine Studie zu Entwicklung und Spezifik der russischen Literatur

Fachliche Zuordnung Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung Förderung von 2005 bis 2008
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 16031315
 
Erstellungsjahr 2008

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Digitale Volkskunst, obszöne Gegenkultur, politische Public Relations - die russische Literatur im Internet verdankt ihre widersprüchliche Natur und ihr besonderes Kolorit den historischen und politischen Begleitumständen ihrer Entstehung. Der Zeitraum der Entwicklung des Internet in Russland umfasst die Jahre 1994 bis 2006 und stellt damit eine im historischen Sinne kurze Zeitspanne dar. Ungeachtet dessen lassen sich jedoch bereits zwei ‚Epochen' einer online basierten kulturellen und gesellschaftlichen Aktivität in Russland unterscheiden. Die frühe Phase der Implementation fällt in den Zeitraum der gesamtgesellschaftlichen Transformation. Das Internet steht in dieser Zeit sinnbildlich für den Anbruch einer neuen Epoche. Es erscheint als die ideale Realisierung eines freien, unzensierten und globalen Kulturraums. Die spätere Phase ab circa 1998 wird geprägt durch zwei Entwicklungstendenzen - die zunehmend massenhafte Verbreitung des Internet sowie eine wachsende staatliche und wirtschaftliche Monopolisierung der Medienlandschaft. In der ersten Phase war das "Runet", so die weit verbreitete Selbstbezeichnung innerhalb der russischen Netz-Community, aufgrund der fehlenden ökonomischen und politischen Relevanz ein scheinbar weitgehend autonomer Raum, in dem sich eine aus der Innensicht der Akteure Interesselose' Kultur und Kunst entwickeln konnte. Angeknüpft wird für die Konzeptualisierung und Nutzung des Internet als unabhängigem, dezentralem, freiem' Publikationskanal an historisch etablierte Konzepte wie den Samizdat (Selbstverlag) der sowjetischen Epoche. Die hypertrophe Autonomie der frühen russischen Netzkultur löst sich in der Zeit der Massenmedialisierung des Internet jedoch schnell auf, ja sie schlägt um in eine in Teilen nicht minder extreme Subordination in Hinblick auf die politischen Medien, seien sie staatlichen oder oppositionellen Profils. Die intensive Durchdringung von künstlerischen, journalistischen und politischen Diskursen und Praktiken verleiht diesen eine für die Protagonisten faszinierende Relevanz. Die im Internet tätigen Literaten verstehen ihre PR-Produkte als die eigentlichen Kunstwerke der Mediengesellschaft und setzen sie als Form des avancierten Guerilla-Marketing zu beliebigen ideologischen Zwecken ein (Maksim Kononenko, Sergej Minaev). Parallel entwickelt sich ein besonders starker Sektor einer Laien- und Amateur- Literatur, die millionenfach normativ und qualitativ fragwürdige Texte produziert, denen ein Erscheinen im Offline aufgrund obszöner, pornographischer oder homophober Inhalte verwehrt bliebe (die Kultur der so genannten "Padonki" = "Nichtsnutze"). Genau hier entstehen jedoch auch die kreativen Jargons, deren sprachliche Eigenheiten sich wesentlich dem Zusammenprall des Englischen und des Russischen, des Lateinischen und des Kyrillischen im WWW verdanken. Innerhalb der zeitgenössischen Ökonomie der Aufmerksamkeit werden die digitalen Laien-Spiel-Wiesen von der professionellen Kulturindustrie abgeschöpft, wie die vielfachen Anleihen von populären Schriftstellern bei der ,frischen' und ,authentischen' Netzkultur zeigen (Viktor Pelevin, Vladimir Sorokin). Der Folklore nahe stehende Formen der kollektiven Textproduktion und Sprachschöpfung dominieren avantgardistische Praktiken des medialen Experiments. Die Analyse der im russischen Internet populären Textsorten macht deutlich, dass hier einfach strukturierte, typisierte literarische Formen produktiver sind, als komplexe non-hierarchische Erzählperspektiven. An die Stelle des Hypertext als dezentriertem Textrhizom tritt die serielle Textproduktion des Weblogs; an die Stelle der kritischen und selbstreflexiven Medienkunst die affirmative und naive Kunst- und Textproduktion der digitalen Laienkultur. Eine Konsequenz aus der weniger technologisch als kommunikativ motivierten ,Natur' der russischen Netzliteratur ist ihre De-Virtualisierung. Web-Tagebücher werden verlegt (Aleksandr Markin), Internet-Romane in Buchform gedruckt (Aleksandr Zitinskij), Sammelbände mit Netzpoesie publiziert. Diese Entwicklung resultiert zwangsläufig in der Infragestellung des Kriteriums der "Nicht-Druckbarkeit" als einer Negativ-Definition von Internet-Literatur. Stattdessen sollten die vielfältigen Übergänge und Bruchlinien (Remediationen, Zanetti) zwischen den verschiedenen Medien und Kommunikationsformen in ihren gegenseitigen Verfremdungseffekten in den Vordergrund treten. Methodisch wurde in der Arbeit entsprechend den Befunden aus den Einzelanalysen ein starker Akzent im Bereich der Kultursoziologie (Bourdieu) und der Folklore-Forschung (Nekljudov) gesetzt, während postmoderne Theorieansätze einer Dekonstruktion des Subjekts und des Texts aus der Perspektive des literarischen Faktenmaterials' kritisch gegengelesen wurden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • "Segodnja ko mne prisel spam". Spam kak sovemennaja zäum'. In: Al'manach akademii zaumi. Pod red. S. Birjukova i A. ATCuk. Moskva 2006, S. 13-17. [Spam als zeitgenössische Zaum'-Sprache. In: Almanach der Akademie der transrationalen Sprache. Herausgegeben von S. Birjukov und Anna Al'cuk. Moskau 2006, S. 13-17.]
    H. Schmidt
  • Spam kak allegorija musora i poeticeskoj muzy. In: Topos. Literaturno-filosofskij zumal, 14,07.2006. [Spam als Allegorie des Medienmülls und der poetischen Muse. In: Topos. Literarisch-philosophische Zeitschrift.] (Siehe online unter: )
    H. Schmidt
 
 

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