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Sprechart: Sprecherspezifische Artikulation als Adaptation an individuelle Vokaltraktgeometrien

Antragstellerin Dr. Susanne Fuchs
Fachliche Zuordnung Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Experimentelle Linguistik, Typologie, Außereuropäische Sprachen
Förderung Förderung von 2010 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 160797621
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Kaum ein Sprecher spricht wie ein anderer. Das hat viele verschiedene Gründe, die sowohl organisch bedingt sind, als auch dadurch bestimmt wird, in welcher Region und sozialen Gruppen ein Sprecher aufwächst und vieles mehr. Das SPRECHart-Projekt konzentriert sich auf den ersten Aspekt und hat die folgenden drei Ziele: 1. die in der Literatur häufig berichtete sprecherspezifische Artikulation in Beziehung zu individuellen Vokaltraktformen zu setzen; 2. die Beziehung von sprecherspezifischer motorischer Ansteuerung, Artikulation und Akustik sowie deren Variabilität zu erörtern, und 3. den sprecherspezifischen Kieferöffnungsgrad bei der Produktion von tiefen Vokalen als mögliche Kompensationserscheinung bestimmter Vokaltraktformen zu analysieren. Für das Erreichen der Ziele standen uns bereits erhobene magnetresonanztomografische, computertomografische Daten sowie Röntgendaten unserer Kooperationspartner zur Verfügung. Die Datenbasis umfasst artikulatorische Realisierungen der Eckvokale von 33 Sprechern. In einem ersten Schritt wurden die vorhandenen Daten in ein einheitliches Format gebracht und hinsichtlich verschiedener anatomisch wichtiger Punkte annotiert. Auf der Grundlage dessen wurden einige Sprecherdaten ausgewählt, parametrisiert und in sprecherspezifische Zungenmodelle implementiert. In einer Studie konnte anhand von experimentellen Daten gezeigt werden, dass die in der Literatur oft berichteten Unterschiede in der akustischen Realisierung von /a/ auf die Verhältnisse von pharyngaler zu palataler Länge und der entsprechenden Zungengröße und -form zurückführen lassen. In einer weiteren Studie mit ein- und zweieiigen Zwillingen bzw. einer zusätzlichen heterogenen Gruppe von Sprechern konnten wir nachweisen, dass der Einfallswinkel des Gaumens entscheidend ist, wie Sprecher den Kontrast zwischen /s/ und /S/ produzieren. In zahlreichen Simulationen mit den erarbeiteten Modellen analysierten wir u.a. das Längenverhältnis zwischen pharyngaler und palataler Mundhöhle und dessen Einfluss auf die Freiheitsgrade der artikulatorischen Bewegungen. Einen weiteren Untersuchungsgegenstand bildete die Untersuchung des Kieferöffnungsgrades beim Sprechen von tiefen Vokalen. In der Literatur wird berichtet, dass Männer häufiger „nuscheln“ („Mumbling is macho“) bzw. Frauen präziser sprechen. Wir gingen der Fragestellung nach, ob das „Nuscheln“ mit einem geringeren Kieferöffnungswinkel zusammenhängt und organische Ursachen haben kann. Hierzu wurden Daten des Deutschen und amerikanischen Englisch hinzugezogen. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen, dass Männer besonders in akzentuierten Silben einen kleineren Kieferöffnungsgrad aufweisen. Anhand von Simulationen mit den sprecherspezifischen Modellen konnten wir beweisen, dass diese geringe Öffnung des Kiefers eine mögliche Kompensationsreaktion ist, da eine größere Öffnung den hinteren Zungenrücken im typisch männlichen Vokaltrakt (langer Rachenraum) dichter an die Rachenwand bringt und dort einen Verschluss verursachen kann. Um unsere Arbeiten im Rahmen dieses DFG-Projekts auch in Zukunft nutzbar zu machen und um künftig Aspekte unserer Arbeit mit interessierten Wissenschaftlern zu teilen, haben wir uns entschieden, das von uns benutzte biomechanische Modell sowie unsere Arbeiten zur Adaption dieses Modells an spezifische Vokaltrakte, in Form einer frei verfügbaren Matlab-Toolbox bereitzustellen. Diese Toolbox kann unter https://github.com/winkijeg/SPEECHart heruntergeladen werden. Mit Hilfe von Bilddateien des Vokaltraktes können hier sprecherspezifische biomechanische Modelle erstellt werden und Hypothesen zum Verhältnis zwischen Vokaltraktform, Artikulation und motorischer Ansteuerung getestet werden. Im Gegensatz zu geometrischen Modellen, erlauben biomechanische Modelle zusätzlich eine Analyse der motorischen Befehle, die Artikulationsbewegungen zugrunde liegen können.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2011) Biomechanical tongue models: An approach to studying inter-speaker variability. Proceedings of the 12th Annual Conference of the ISCA - Interspeech, Florence, Italy
    Winkler, Ralf, Fuchs, Susanne, Perrier, Pascal & Tiede, Mark
  • 2011. Speaker-specific biomechanical models: From acoustic variability via articulatory variability to the variability of motor commands in selected tongue muscles. In Yves Laprie (ed.), Proceedings of the ISSP, 219-226. Montreal: CD-ROM
    Winkler, Ralf, Susanne Fuchs, Pascal Perrier & Mark Tiede
  • 2011. Vocal tract morphology can influence speaker specific realisations of phonemic contrasts. In Yves Laprie (ed.), Proceedings of the ISSP, 251-258. Montreal: CD-ROM
    Weirich, Melanie & Susanne Fuchs
  • 2013. Palatal morphology can influence speaker-specific realizations of phonemic contrasts. Journal of Speech, Language and Hearing Research 56. 1894-1908
    Weirich, Melanie & Susanne Fuchs
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1044/1092-4388(2013/12-0217))
  • 2014. Mumbling is morphology? In Susanne Fuchs, Martine Grice, Anne Hermes, Leonardo Lancia & Doris Mücke (eds.), Proceedings of the Xth ISSP, 457-460. Köln: Universität Köln
    Weirich, Melanie, Adrian Simpson, Susanne Fuchs, Ralf Winkler & Pascal Perrier
  • 2015. Biomechanics of the orofacial motor system: Influence of speaker-specific characteristics on speech production. In Fuchs et al. (eds.) Individual differences in speech production and perception (Series: Speech production and perception). Frankfurt/M.: Peter Lang Publisher, pp.223-254
    Perrier, Pascal & Ralf Winkler
  • 2015. Individual differences in speech production and perception (Series: Speech production and perception). Frankfurt/M.: Peter Lang Publisher
    Fuchs, Susanne, Daniel Pape, Caterina Petrone & Pascal Perrier (eds.)
 
 

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