Kinderkörper in der Praxis. Eine Ethnographie der Prozessierung von Entwicklungsnormen in kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen (U3 bis U9) und Schuleingangsuntersuchungen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt ist an der Schnittstelle von erziehungswissenschaftlicher Kindheits-, Professions- und Instittionsforschung sowie Medizin- und Gesundheitssoziologie angesiedelt. In einer Gesamtlaufzeit von Februar 2006 bis März 2011 wurden die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen (U3 bis U9, von der vierten Lebenswoche bis zum fünften Lebensjahr) und die ärztlichen Schuleingangsuntersuchungen (SEUen) in Hinblick auf die praktische Prozessierung von Normen der kindlichen Entwicklung mit ethnographischen Methoden erforscht. Beide Untersuchungsformen konstituieren eine bundesweit institutionalisierte Praxis der Beobachtung von Entwicklungsprozessen bei Kindern, die alle Kinder der jeweiligen Alters-gruppe einbeziehen sollen. Da Diagnosen von Entwicklungsstörungen bei Kindern in den letzten Jahren ausdifferenziert wurden und gleichzeitig stark zugenommen haben, stellte das Projekt die Frage, in welchen Weisen Maßstäbe für eine "normale", altersgerechte kindliche Entwicklung während der Untersuchungen an Kinder angelegt und/oder entwickelt und verhandelt werden. Das Projekt erforschte, wie sich in beiden Untersuchungsvarianten die Logik ihrer praktischen Durchführung in situ darstellt, wie darüber Entwicklungsnormen prozessiert, welche diagnostischen Verfahren wie zum Einsatz kommen und wie Zuständigkeiten für die normale Entwicklung der Kinder in Aushandlungsprozessen unter medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Professionen sowie den Eltern 'aufgeteilt' werden. Im Zentrum der erarbeiteten Ergebnisse steht eine kultur- und praxisanalytische Rekonstruktion der situierten interaktiven Prozesse und der Anwendungen von entwicklungsdiagnostischen Methoden und Instrumenten in den Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen. Die Kontrastierung der beiden Untersuchungsformen nutzten die Forscherinnen methodologisch für die Rekonstruktion von Differenzen und Gemeinsamkeiten der Praktiken, Handlungs- und Legitimierungsstrategien der Entwicklungsbeobachtung sowie ihrer Verknüpfung mit pädagogischen Praktiken. Die These, dass neben der Form der Untersuchungen erst die Hybridisierung der Teilnehmerperspektiven in situ, in den Interaktionen zwischen Ärzten, Kindern und Eltern (und ggf. weiteren Beteiligten) darüber entscheidet, welche praktische Bedeutung die über (standardisierte) Instrumente und Verfahren transportierten Normen in konkreten Fällen erlangen, welchen Handlungsbedarf die Untersuchungsergebnisse induzieren und welche Behandlungsformen letztere legitimieren, wurde für eine gegenstandsbezogene Theoriebildung in einzelnen empirischen Studien ausdifferenziert. Ergebnisse wurden zu folgenden vier Schwerpunkten erarbeitet: 1) Normalitäts- und Risikokonstruktionen in Uen und SEUen wurden einschließlich ihrer Referenzen auf soziale Differenzierungen rekonstruiert. Die Variabilität und der Fallbezug von Risikokonstruktionen in den Untersuchungen ebenso wie die Konstruktion von Eltern/Familie als Risiko für die Entwicklung des Kindes (und die implizite Konstruktion der komplementären diskursiven Figur "Normalfamilie") wurden in Einzelstudien herausgearbeitet. 2) Die Hybridisierung unterschiedlicher Wissensordnungen und -formen in situ (von Professionellen und Laien, von Medizin und Pädagogik) wurde an der Logik der praktischen Durchführung der SEUen und Uen und an den Praktiken des Testens analytisch herausgearbeitet. 3) Praktiken der Geschlechterdifferenzierung und der Tabubearbeitung in den Uen wurden in Hinblick auf feldspezifische Verknüpfungen von Differenzkategorien rekonstruiert. 4) Uen und SEUen wurden als gesundheitspolitische Programme und hinsichtlich der Spannungsverhältnisse zwischen individualdiagnostischen und epidemiologischen Funktionen analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass entwicklungsdiagnostische Befunde nicht etwa als kontextfrei gültige, sondern vielmehr als fallspezifisch relationierte Erträge interaktiver diagnostischer Prozesse zu betrachten sind, die institutionell und programmatisch vorstrukturiert sind und an denen neben dem medizinischen Personal Kinder und Eltern als Akteure aktiv mitwirken. Die Ergebnisse des Projekts konzentrieren sich auf eine praxisanalytische Reflexion entwicklungsdiagnostischer Verfahren, insofern sie die praktische Vollzugslogik des Untersuchens und Testens und die ihnen eigenen Interaktionsordnungen sowie die situativen, bisweilen unbeabsichtigten und paradoxen Effekte der (Test)Durchführung in Detailanalysen aufzeigen. Diese Phänomene werden testtheoretisch bisher nicht hinreichend reflektiert, die Ergebnisse des Projekts können demnach zu einer Erweiterung der testtheoretischen Grundlagen durch wissenssoziologische und praxisanalytische Perspektiven beitragen. Die erarbeiteten Einzelstudien stellen ebenso die Ambivalenz der Etablierung und des Unterlaufens normalistischer Erwartungen an die kindliche Entwicklung in der Durchführung der Untersuchungen heraus. Die gesellschaftliche Fokussierung auf die elterliche Arbeit am Kinderkörper wird durch die Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen nicht unwesentlich mitkonstituiert, die praxisanalytischen Studien des Projektes zeigen, wie diese Fokussierung in der Durchführung beider Untersuchungsformen konkret stimuliert wird. Vorsorge und Prävention findet vielfach im "Modus von Erziehung", als Gesundheitserziehung und -beratung der Eltern statt. Neben der Diagnostik im engeren Sinne leisten die Vorsorgen eine Prozessierung der Entscheidung zwischen Behandeln und Erziehen/Fördern und damit eine Verteilung von gesellschaftlicher Verantwortung für die Entwicklung von Kindern zwischen medizinischen Professionellen und Eltern.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2006. Sprachtests – ethnographisch betrachtet. Ein Beitrag zur Kulturanalyse frühdia-gnostischer Testverfahren. Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Bd. 7. 2006, Heft 2, S. 271-291.
Kelle, H.
- 2007. „Ganz normal“: Die Repräsentation von Kinderkörpernormen in Somatogrammen. Eine praxisanalytische Exploration kinderärztlicher Vorsorgeinstrumente. Zeitschrift für So-ziologie (ZfS) 36.3: 199-218
Zeitschrift für Soziologie, Band 36.2007, Heft 3, S. 197–216.
Kelle, H.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/zfsoz-2007-0303) - 2008. Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung der kindlichen Entwicklung. Weinheim: Juventa, 2008, 226 S., ISBN 978-3-7799-1545-4.
Kelle, H.; Tervooren, A.
- 2008. „Praktiken der Instrumentierung“. Methodologische und methodische Überlegungen zur ethnografischen Analyse materialer Dokumentationspraktiken in kinderärztlichen Vor-sorgeuntersuchungen. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE), Jg. 28. 2008, Ausg. 3, S. 301-315.
Bollig, S.
- 2009. Die Ordnung der Familie als Präventionsressource. Informelle Entwicklungsdiagnostik in Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen am Beispiel kindlicher Fernsehnutzung. ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Jg. 2009, Ausg. 2, S. 157-172.
Bollig, S., Tervooren, A.
- 2010. Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik. Opladen: Budrich, EWR, Bd. 10. 2011, Nr. 2 (März/April), ISBN 978-3-86649-301-8.
Kelle, H.
- 2010. Stillen – zum Wohle des Kindes. Reproduktion und Effekte von Still-diskursen in Praktiken der Kindervorsorgeuntersuchungen. Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, Band 28. 2010, Heft 2, Seiten 257–269.
Ott, M.; Seehaus, R.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/fs-2010-0208) - 2010. ‘Age-appropriate Development’ as Measure and Norm. An ethnographic study of the practical anthropology of routine paediatric checkups. Childhood. A journal of global child Research,
Vol. 17.2010, Issue 1, pp. 9-25.
Kelle, H.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1177/0907568209351548) - 2011. Schuleingangsuntersuchungen im Spannungsfeld von Individualdiagnostik und Epidemiologie. Eine Praxisanalyse. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Jg. 6. 2011, Nr. 3, pp. 247-262.
Kelle, H.