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Der "Ghetto"-Begriff in der polnisch-jüdischen Historiographie und Publizistik 1868-1918. Eine begriffs- und kommunikationsgeschichtliche Untersuchung

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2010 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 170212518
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Für das heutige Bild der jüdischen Geschichte hat der Begriff „Ghetto“ eine besondere Bedeutung. Er symbolisiert den Randgruppencharakter der jüdischen Bevölkerung und wird häufig verwendet, um die Trennung zwischen der vormodernen und der modernen, aufgeklärten und emanzipierten Epoche der jüdischen Geschichte zu bezeichnen. Bei näherer Beschäftigung mit dem Begriff wird deutlich, dass keine eindeutige Definition von „Ghetto“ existiert, sondern dass der Begriff zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen immer wieder neu kontextualisiert wurde. Die Studie untersucht den Gebrauch der „Ghetto“-Metapher. Im Zentrum steht Galizien am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weil hier die größte Konzentration des „Ghetto“-Begriffs in Publizistik und Historiographie zu beobachten ist. Durch die Kombination von begriffs- und kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen wird die Bedeutung des Begriffs in mehreren Ebenen erforscht. „Ghetto“ erscheint dabei als eine Raumkonstruktion, die einerseits einen spezifisch jüdischen Raum aufspannt, andererseits aber auch die Interaktion von Juden und Nichtjuden thematisiert. „Ghetto“ stellt zudem eine Zeitkonstruktion dar, die einen zentralen Platz für die Entwicklung eines jüdischen Geschichtsbilds einnahm und zugleich immer auch eine Zukunftsprojektion enthielt: „Ghetto“ als Phänomen, welches die Vergangenheit prägte, in der Gegenwart spürbar war und in der Zukunft überwunden werden musste. Die Untersuchung zeigt, dass man nicht von einem festen Begriffskern ausgehen kann, der sich im Lauf der Zeit verschoben habe. Schon den ersten Belegen ist eine Mehrdeutigkeit inhärent, die es unterschiedlichen Akteuren erlaubte, ihre jeweiligen Agenden in den Begriff einzuschreiben. Deswegen ist Begriff auch nicht verschwunden, als im Zuge der Emanzipation allmählich die Rückbindung an konkrete Topographien aufhörte. Sie zeigt die Bandbreite von Konnotationen, die mit „Ghetto“ verbunden wurden und zeichnet die kommunikativen Verbindungen und Adaptationen zwischen den verschiedenen Textgattungen nach. Damit liefert die begriffsgeschichtliche Untersuchung von „Ghetto“ keine lineare Entwicklungserzählung, sondern eine Verflechtungsgeschichte historischer wie gegenwartsbezogener, gesellschaftlich-kultureller Raum- und Identitätskonstruktionen. Die Uneindeutigkeit des Begriffs erscheint dabei nicht als wegzuanalysierendes Manko, sondern als Schlüssel zur Interdependenz von Kommunikations- und Identifikationsprozessen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Raum und Symbol. Das jüdische Viertel in der frühen Neuzeit als „Ghetto“ in den Werken Majer Bałabans, in: Kwartalnik Historii Żydów/Jewish History Quarterly 2011, H. 4 (240), S. 445-461
    Jürgen Heyde
  • Miejsce czy symbol? „Ghetto“ w europejskiej historii (XVI-XX w.), in: Czasy nowożytne 26 (2013), S. 17-34
    Jürgen Heyde
  • Ghetto and Emancipation. Reflections on Jewish Identity in Early Works of Ozjasz Thon, in: A Romantic Polish-Jew. Rabbi Ozjasz Thon from Various Perspectives, ed. Michał Galas and Shoshana Ronen, Kraków 2015, S. 47-59
    Jürgen Heyde
  • Making sense of „the Ghetto“. Conceptualizing a Jewish space from Early Modern times to the present, in: Jewish and non-Jewish Spaces in Urban Context, ed. Alina Gromova, Felix Heinert, Sebastian Voigt, Berlin 2015, S. 37-61
    Jürgen Heyde
 
 

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