Dekolonisierung und Erinnerungspolitik. Schulbücher im Kontext gesellschaftlicher Konflikte in Frankreich (1962-2009)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Schulbuchwissen erscheinen nicht nur vorherrschende Repräsentationen der Welt, sondern damit verbunden artikuliert sich eine jeweils vorherrschende Subjektposition, von der aus das Wissen um die Welt versammelt und vermittelt wird, um dergestalt „zugehörige" Subjekte anzurufen. Das korrespondierende Weltbild des 20. Jahrhunderts war insbesondere in Frankreich durch die republikanisch-universalistischen mission civilisatrice geprägt. In der mission civilisatrice, wie sie vor allem im Schulbuchdiskurs der Dritten Republik repräsentiert und legitimiert wurde, setzte sich die republikanische Nation als universalistisches Subjekt, das im Rahmen des französischen Kolonialreiches die Errungenschaften der Zivilisation in weite Teile der Welt brachte. Dieser politisch-epistemologische Einklang zwischen Nation und civilisation erfuhr mit dem Ereignis der Dekolonisierung schließlich eine fundamentale Herausfordemng, die sich auch und gerade im Diskurs der Geschichtsschulbücher in Frankreich seit den 1960ern niederschlug. Dieser politisch-epistemologische Problemzusammenhang bildet, so die hier entfaltete These, den Rahmen und die Möglichkeitsbedingung sowohl für die Frage nationaler Identität als auch für den wuchernden Diskurs postkolonialer Erinnerungspolitik in Frankreich. Denn die darin implizierte wiederholte Erzählung nationaler Identität wirft unweigerlich immer auch die Frage nach dem politischen und epistemologischen Standpunkt des jeweiligen Subjekts der Erzählung auf. Insofern bildet die Nation in Anlehnung an Foucault eine politisch-epistemologische Dublette, d.h. zugleich den Gegenstand (das Objekt) und das historisch privilegierte Subjekt als Möglichkeitsbedingung der jeweiligen Erzählung und des entsprechenden historischen Wissens. Der Rekurs auf die Geschichte und deren Bedeutung für die Gegenwart spielt daher eine konstitutive Rolle, wie sie sich vor allem in der nationalen Erinnerungspolitik manifestiert. Die seit der III. Republik institutionalisierte postrevolutionäre Erinnerungspolitik konstituierte die Nation dezidiert als eine republikanische Erinnerungsgemeinschaft. Die darin inhärente historisch-politische Begründung und republikanische Legitimation nationaler Identität prägte weitgehend auch noch die Erinnerungspolitik zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Allerdings wurde dies seit den 1980ern im Zuge der schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vichy-Regimes bereits zunehmend problematisch. Schließlich hat diese - mit dem Rekurs auf die Geschichte und Werte der Revolution begründete - emphatisch republikanische Konstitution nationaler Identität seitdem eine tiefgreifende Krise erfahren, und zwar nicht zuletzt durch die kontroversen Auseinandersetzungen zunächst vor allem um die Geschichte des Algerienkrieges sowie sukzessive der kolonialen Vergangenheit insgesamt. Zweifellos korrespondiert dieser Wandel der Erinnerungspolitik mit der wahrgenommenen politischen Herausforderung der nationalen Identität Erankreichs durch die postkoloniale Immigration. Allerdings verweist dieser neuartige kritische Fokus innerhalb der republikanischen Selbstbeschreibung der Nation darüber hinaus auch auf eine grundlegende politisch-epistemologische Krise infolge des historischen Ereignisses der Dekolonisierung und des damit verbundenen Endes Frankreichs als koloniale Weltmacht. Insgesamt handelt es sich hier um ein diskursives re-entry der Unterscheidung Metropole/Kolonien in der Metropole, die damit eine grundlegende Herausforderung der politisch-epistemologischen Repräsentation des Subjekts der Nation darstellt. Eine zentrale These lautet daher, dass sich in diesem Zusammenhang seit der Dekolonisierung eine politisch-epistemologische „Krise der Repräsentation" (Liauzu) und sukzessive eine erinnerungspolitische Verschiebung vom postrevolutionären zum postkolonialen Subjekt der Nation ereignet (hat).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- "Das Subjekt der Nation in der condition postcoloniale. Krisen der Repräsentation und der Widerstreit postkolonialer Erinnerungspolitik in Frankreich", in: Lendemains. Etudes comparees sur la France, 39, N° 144, 2011, S. 54-76
Marcus Otto
- "Guerres de memoires - Zur widerstreitenden Gegenwart der kolonialen Vergangenheit in Frankreich", in: Eckert. Das Bulletin, 11, 2012, S.15-18
Marcus Otto
- "Introduction: Educational Media, Textbooks, and Postcolonial Relocations of Memory Politics in Europe", in: Postcolonial Memory Politics in Educational Media, Special Issue Journal of Educational Media, Memory, and Society (JEMMS), Vol. 5, 1, 2013, S.1-13
Eckhardt Fuchs/Marcus Otto
- "The Challenge of Decolonization, School History Textbooks as Media and Objects of the Postcolonial Politics of Memory in France since the 1960s", in: Postcolonial Memory Politics in Educational Media. Special Issue Journal of Educalional Media, Memory, and Society (JEMMS), Vol.5, 1,2013,S.14-32
Marcus Otto
- Dezentrierung des Weltbildes? Die Krise der westlichen Zivilisation, das Ereignis der Dekolonisierung und die Frage des Subjekts im Diskurs der Geschichtsschulbücher in Frankreich in den 1960ern, In: Comparativ - Zeilschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsordnung. Vol 23,3,2013, S. 117-137
Marcus Otto
- Postcolonial Memory Politics in Educational Media, Special Issue Journal of Educational Media, Memory, and Society (JEMMS), Vol. 5, 1, 2013
Eckhardt Fuchs/Marcus Otto
- Schulbücher für den Geschichtsunterricht, Version 1.0. In Docupedia-Zeitgeschichte, 18. 2.2014
Marcus Otto, Felicitas Macgilchrist
- "France", in Luigi Cajani/Simone Lässig/Maria Repoussi (Hg.): History Education under Fire. Curricula and Textbooks in International Perspective. 2016 - London: Routledge
Marcus Otto