Dreidimensionale Modellierung und Simulation der dynamischen Reckalterung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
2.1 Allgemeinverständliche Darstellung der wesentlichen Ergebnisse und der erzielten Fortschritte gegenüber dem Stand des Wissens zum Zeitpunkt der Antragstellung Die dynamische Interaktion von mobilen Versetzungen und Fremdatomen führt bei vielen technologisch relevanten Legierungen auf Al-, Cu- oder Fe-Basis zu einer negativen Dehnratenempfindlichkeit der Fließspannung. Nimmt die Fließspannung in einembestimmten Dehnratenbereichmit zunehmender Dehnrate ab, so liegt in diesem Bereich eine Materialinstabilität vor. In Zugversuchen zeigt sich diese Instabilität in gezähnten oder stufenförmigen Spannungs-Dehnungs-Kurven (Portevin-Le Chatellier (PLC)-Effekt). Die mit dieser Instabilität einhergehenden Verformungslokalisierungen können z.B. zu einem Duktilitätsverlust und einer Beeinträchtigung der Oberflächengüte führen. Eine Berücksichtigung dieses Instabilitätsmechanismus im Kontext dreidimensionaler Finite-Element-Simulationen unter Berücksichtigung großer Rotationen und Formänderungen ist für die Bauteil- und Prozessoptimierung von grundsätzlicher technologischer Bedeutung. Das Ziel des Projektes bestand in der dreidimensionalen Verallgemeinerung von etablierten eindimensionalen Materialmodellen zur Beschreibung der dynamischen Reckalterung. Die neu entwickelten Modelle sollen zur Simulation von Umformprozessen mittels der Finite-Elemente-Methode (FEM) verwendet werden, was eine geometrisch nichtlineare Formulierung der konstitutiven Gleichungen erforderlich macht. Den Ausgangspunkt der Arbeiten im Rahmen des Antragszeitraums bildeten experimentelle Untersuchungen der Al-Legierung 2024. Es wurden Zugversuche mit unterschiedlichen effektiven Dehnraten durchgeführt. Das Ziel der Versuche bestand darin, die wesentlichen Charakteristiken des PLC-Effekts wie z.B. den Band-Typ und die Dehnratenabhängigkeit der kritischen Dehnung zu bestimmen. Die kritische Dehnung ist die Dehnung, bei der die ersten PLC-Bänder auftreten. Bei kleinen Dehnraten wurden Bänder vom Typ C beobachtet, die zufällig in der Probe verteilt sind, bei großen Dehnraten Bänder vom Typ A, die sich kontinuierlich durch die Probe bewegen. Die experimentellen Untersuchungen zeigten ebenfalls, dass mit zunehmender Dehnrate beim Bandtyp C die kritische Dehnung abnimmt (inverser PLC-Effekt), beim Bandtyp A dagegen zunimmt (normaler PLC-Effekt), so dass der Verlauf der kritischen Dehnungen über der Dehnrate nichtmonoton ist mit einem Minimum oder Plateau im Bereich mittlerer Dehnraten. Im Übergangsbereich vom inversen zum normalen Verhalten wurde der Bandtyp B beobachtet, eine Übergangs- und Mischform der vorhergenannten Bandtypen. An die experimentellen Untersuchungen schlossen sich theoretische und numerische Untersuchungen an. Während die für ein (visko)plastisches Materialverhalten ohne dynamische Reckalterung typischen Instabilitäten (Dehnungsentfestigung oder H-Instabilität) schon seit längerem im Kontext dreidimensionaler kontinuumsmechanischer Modelle untersucht wurden, erfolgten die meisten Untersuchungen der dynamischen Reckalterung (Dehnrateninstabilität oder S-Instabilität) auf der Grundlage ein- oder dreidimensionaler Materialgesetze für kleine Formänderungen. Da die untersuchten Instabilitäten nur bei mittleren Dehnraten im Bereich kleiner Verformungen auftreten, bei kleinen und großen Dehnraten aber bei mittleren bis großen Deformationen, musste zunächst ein geometrisch-nichtlineares Material formuliert, implementiert und identifiziert werden. Neben der geometrisch nichtlinearen Formulierung und Identifikation der Stoffgleichungen bestand eine wesentliche Herausforderung darin, sowohl den normalen als auch den inversen PLC-Effekt durch das Modell qualitativ und quantitativ richtig abzubilden. Nach Kenntnis der Antragsteller gab es zum Zeitpunkt der Antragstellung kein dreidimensionales Modell, das dies leistete. Auf Grund der zu berücksichtigenden starken Nichtlinearitäten erfolgte die Modellentwicklung in zwei Schritten. Zunächst wurde ein phänomenologisches elasto-viskoplastisches Materialmodell entworfen, bei dem die Fließspannung von der akkumulierten plastischen Dehnung und der Reckalterungszeit abhängt. In einem zweiten Schritt wurde die Modellierung der Dehnratenentfestigung durch die Berücksichtung des Einflusses der Evolution mobiler Versetzungen und Waldversetzungen auf die Fließspannung verfeinert. Die Materialparameter der beiden Modelle wurden an Hand der oben diskutierten experimentellen Daten identifiziert. Mit diesen Modellen wurden die globalen Spannungs-Dehnungs-Kurven und die PLC-Band-Eigenschaften in Abhängigkeit der Dehnrate, der Probengeometrie und der Belastung untersucht. Die Abhängigkeit der Bandwinkel vom Eigenwertverhältnis der Verzerrungsgeschwindigkeit wurde mit Hilfe von RVE-Rechnungen bestimmt. Die Simulationen reproduzieren die experimentell beobachtete Abhängigkeit der Bandgeschwindigkeit und Banddicke von der Verzerrungsgeschwindigkeit. Als Anwendungsbeispiel wurde ein Tiefziehversuch mit dem PLC-Modell simuliert und die zugehörigen Verformungslokalisierungen studiert. Es kann zusammengefasst werden, dass ein Materialmodell für große Formänderungen entwickelt wurde, das die wesentlichen experimentellen Befunde beim Auftreten des normalen und des inversen PLC-Effekts und die PLC-Band-Charakteristiken qualitativ und quantitativ richtig abbildet. 2.2 Ausblick auf zukünftige Arbeiten und Beschreibung möglicher Anwendungen Da für die Modelle sowohl ein Schema zur Identifikation der Materialparameter als auch ein effizientes Zeitintegrationsverfahren entwickelt wurden, lässt sich dasModell jetzt grundsätzlich im industriellen Kontext zur Simulation und Optimierung von Umformprozessen anwenden. Im Rahmen der Forschungstätigkeiten (Prof.Böhlke) werden Fragen im Kontext der Dehnratenentfestigung in Zukunft im Zusammenhang mit mikromechanischen Fragestellungen weiter untersucht. Die Ergebnisse des Projekts gehen auch in weiterführende theoretische Untersuchungen des PLC-Effekts bei Stählen (Prof. Estrin) ein.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- G. Bondár, T. Böhlke, Y. Estrin: Three-Dimensional Continuum Mechanical Modeling of the Portevin-Le Châtelier Effect. 6th International Congress on Industrial and Applied Mathematics (ICIAM07), GAMM-Jahrestagung 2007, Zürich 6.-20.07.2007
- T. Böhlke, G. Bondár, S. Dimitrov, Y. Estrin, M.A. Lebyodkin: Geometrically Non-Linear Modeling of the Portevin-Le Chatelier Effect.