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Armenbriefe und Unterstützungsgesuche in Deutschland und Großbritannien, 1770 - 1914 / Pauper Letters and Petitions for Poor Relief in Germany and Great Britain, 1770 - 1914

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2010 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 174272485
 
Erstellungsjahr 2015

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt erschließt in einer vergleichenden Edition eine Quellengruppe, die in der sozialhistorischen Forschung in Großbritannien bereits verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hatte, in der deutschen Forschung bisher aber weitgehend unbeachtet geblieben war: Briefe und Unterstützungsgesuche, in denen Arme ihre Gemeinden oder andere Institutionen um Unterstützung baten. Diese in der britischen Forschung als „pauper letters“ oder „pauper narratives“ bezeichnete Quellen sind nicht nur in britischen, sondern auch in deutschen Archiven in z.T. großer Zahl überliefert. Sie enthalten häufig detaillierte Angaben über die Lebensumstände der Armen und über ihr soziales Umfeld. Zugleich geben sie einen einmaligen Einblick in unterschiedliche Aspekte populärer Schreibkultur. Das Projekt wird eine Auswahl von jeweils ca. 1000 deutschen und britischen Unterstützungsgesuchen aus der Zeit vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert in einer digitalen kritischen Edition der Forschung zur Verfügung stellen. Diese Edition wird in Kürze open access über die website des Deutschen Historischen Instituts London (www.ghil.ac.uk) zugänglich sein. Darüber hinaus hat das Projekt eine interne, für Forschungszwecke aber auf Antrag jederzeit zugängliche Datenbank mit mehreren tausend Unterstützungsgesuchen aus beiden Ländern angelegt. Der Zugang kann über die Projektleiter beantragt werden. Nach Abschluss der Projektarbeiten wird auch diese Datenbank frei zugänglich gemacht werden. Die Unterstützungsgesuche sind eine hervorragende sozialhistorische Quelle. Das Projekt hat sich in zahlreichen Beiträgen mit verschiedenen Aspekten der Geschichte der Armut und der Armen in Deutschland und Großbritannien sowie auch in vergleichender Perspektive beschäftigt. Im Zentrum standen bisher Fragen des sozialen Umfelds der Armen (Familie, Nachbarschaft, Wohnverhältnisse), der Bedeutung der Gemeindezugehörigkeit und der damit verbundenden Schwierigkeiten im Übergang zu Unterstützungswohnsitzregelungen im Zeitalter der Industrialisierung, der geschlechtsspezifischen und der Altersarmut, des Zusammenhangs von Armut und Krankheit und des Zugangs der Armen zu medizinischer Versorgung. Besondere Aufmerksamkeit widmete das Projekt auch der kritischen Beschäftigung mit der Quellengattung der Unterstützungsgesuche, besonders der Frage der Autorschaft und der Schreibfähigkeit der Armen, der Verbreitung und Funktion von Schreibern und generell der Sprach und den rhetorischen Strategien der Armen. Der Erste Weltkrieg scheint eine Wasserscheide bezüglich der Politisierung der Sprache der Armen darzustellen, allerdings reichen die erhobenen Quellen aus datenschutzrechtlichen Gründen nur für einige deutsche Orte in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hinein. Im Zentrum der noch folgenden Analysen werden vor allem deutsch-britische, aber auch interregionale Vergleiche stehen. In Großbritannien wurden Quellen aus sämtlichen Counties erhoben, in Deutschland aus einer regional breit gestreuten Zahl von Orten von Aurich bis Ulm und Trier bis Stralsund. Es wurden dabei unterschiedliche ökonomische, religiöse und politische Kontexte berücksichtigt, die auf unterschiedliche Armutsrisiken, Praktiken und Institutionen der Unterstützung und Fürsorge, aber auch auf unterschiedliche Erwartungshorizonte der Armen verweisen. Wie stark diese von zentralen staatlichen Regelungen oder von regionalen Traditionen geprägt wurden, ist eine der Fragen, denen auch durch den internationalen Vergleich systematisch nachgegangen werden soll. Schließlich werden auch die Wege Großbritanniens und Deutschlands in die moderne Wohlfahrtstaatlichkeit von dem Projekt miterfasst - nicht zuletzt dadurch, dass die vom Projekt erschlossenen Quellen gut die beschränkte Reichweite der Anfänge der Bismarckschen Sozialversicherung demonstrieren, die in ihren ersten Jahren keinen wirklichen Bedeutungsverlust der kommunalen Armenfürsorge bewirkte.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • ‘Elizabeth Hurren and Steven King: Narratives of Poverty and Sickness in Europe 1780 to 1938: Sources, Methods and Experiences’, in: dies. (Hg.), Poverty and Sickness in Modern Europe, London/New York 2012, S. 1-33
    Andreas Gestrich
  • 'Trajectories of German Settlement regulations: the Prussian Rhine Province, 1815 - 1914’, in: Steven King / Anne Winter (eds.), Migration, Settlement and Belonging in Europe, 1500-19302. Comparative Perspectives, Oxford / New York 2013, S. 250-268
    Andreas Gestrich
  • ‘Settlement and Belonging in England, 1780s to 1840s’, in King / Winter (eds.), Migration, Settlement and Belonging in Europe, Oxford / New York 2013, 81-101
    Steven King
  • ‘Conclusions’, in: Beate Althammer / Andreas Gestrich / Jens Gründler (Hg.), The Welfare State and the ,Deviant Poor' in Europe 1870- 1933, Basingstoke 2014, S. 213-223
    Jens Gründler / Andreas Gestrich
  • ‘Nursing Under the Old Poor Law in Midland and Eastern England 1780- 1834’, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 69 (2014), 1-35
    Steven A. King
  • "They sit for days and have only their sorrow to eat”. Old Age Poverty in German and British Pauper Narratives, in: Beate Althammer / Lutz Raphael/ Tamara Stazic-Wendt (eds.) Rescuing the Vulnerable: Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe (New York/Oxford: Berghahn 2016) (International studies in social history, 27). 9781785331367. Kap. 14, S. 356-381
    Andreas Gestrich / Daniela Heinisch
  • ‘German Pauper Letters and Petitions for Relief. New Perspectives on 19th- and 20th-Century Poor Relief, in: Lutz Raphael (Hg.), Poverty and Welfare in Modern German History (New York/Oxford, Berghahn Books, 01.12.2016) Kap. 2, S. 49-77
    Andreas Gestrich
 
 

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