Angesichts der Herausforderung historischer Eigendynamik: Zu den Schwierigkeiten autobiographischen Schreibens zwischen 1790 und 1860
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Auswirkungen, die das Aufkommen der neuen Geschichtserfahrung auf das Subjekt in Frankreich hat, lassen sich mannigfach in den literarischen und publizistischen Schriften zwischen 1790 und 1814/15 aufdecken. Sie gehen weit über das zum Topos gewordene Erschrecken über die Revolution, die ihre Kinder frißt, hinaus. Trotz der großen Bandbreite von Reaktionen sind Gemeinsamkeiten auszumachen, wie die Problematik von Subjekt und der sich beschleunigenden Geschichte je nach historischer Phase gedacht wird. Bis 1799 ist die Literatur von Versuchen bestimmt, der Geschichtserfahrung Herr zu werden, allerdings um den Preis, daß die Einzelnen darauf verfallen, sich gewissermaßen das dynamische Prinzip der Umwälzungen einzuverleiben, um es beschreibbar zu machen. In den vielfältigen Formen autobiographischen Schreibens der 1790er Jahre bildet sich ein extremes Spektrum von Positionen aus, das von dezidierten Formen der Gegenwehr, in Gestalt der apologetischen Identitätsbehauptung wie bei Mme Roland etwa, bis zu offenkundigen Anzeichen einer Überforderung reicht, die sich der fast vollständigen Marginalisierung des Ich etwa bei Marmontel entnehmen läßt. Erleben und Umgang mit der Eigendynamik bringen es mit sich, daß sich auch das Erfahren des Schreibens selbst ändert. Das Phänomen der littérature bahnt sich an, wie es Roland Barthes für die Mitte des 19. Jahrhunderts definiert hat. Je mehr sich unter Bonaparte die Bewegung der Revolution in die Feldzüge verlagerte, umso mehr werden Zeitgeschichte und das Erleben ihrer Dynamisierung massiv verdrängt oder wenn möglich eingehegt. Das Ich und die sich beschleunigende Geschichte werden auseinandergezogen, um das Ich aus den üblichen Zusammenhängen herauszuheben und zu konsolidieren. Im Bemühen um eine Stärkung des Subjekts findet auch die Literatur der Frühromantik ihren festen Platz, wenngleich es hier mehr und mehr durch die fortschreitende Vereinzelung/Individualisierung irritiert wird, die konservativ-katholische wie liberale Autoren als Gefährdung empfinden. Das Festigen des Ich ruht zudem auf dem Ausblenden historischer Zusammenhänge auf. Die Literatur des Empire neigt daher zu, das Ich in zeitlichen Ausschnitten zu erzählen – ein Verfahren, das dem nach Foucault für die moderne Epistémé kennzeichnenden Zwang, Kontinuitäten zu stiften, diametral entgegengesetzt ist. Erst nach dem Sturz Napoleons wird die Geschichte sich wieder in das Ich einnisten und neue Lösungen erforderlich machen, der Problematik schriftstellerisch zu begegnen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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“Les notions d’ « histoire » et de « mémoire » dans l’Essai sur les révolutions de Chateaubriand », in Ecrire, ou la présence du passé. Presses universitaires de Caen, 2012
Franziska Meier
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“‘Il faut être né physionomiste’. Louis Sébastien Merciers Überlegungen zum Porträt nach der Französischen Revolution“, in Willi Jung und Angela Fabris (Hg.): Zur Poetik des literarischen Porträts. Festschrift für Helmut Meter, Peter Lang Verlag 2012
Franziska Meier
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„Die Verzeitlichung des Raums und der Ort des Subjekts. Überlegungen zur Stadtbeschreibung bei Mercier, Chateaubriand, Stendhal und Tocqueville“, in Matthias Hausmann (Hg.): „Visionen des Urbanen: (Anti-)Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst“. Winter-Verlag Heidelberg 2012
Franziska Meier