Der Nationalsozialismus als biographische und gesellschaftliche Herausforderung. Formen des individuellen Umgangs mit dem Nationalsozialismus nach 1933 und nach 1945
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Forschungsprojekt hat untersucht, wie die Zeitgenossen in den ersten Jahren nach dem Beginn und nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ihr eigenes Verhältnis zum Nationalsozialismus bestimmten. Sowohl das NS-Regime als auch aus entgegengesetzter Perspektive die alliierten Besatzer wollten von den einzelnen Deutschen wissen, wie diese zum Nationalsozialismus standen und machten gesellschaftliche Teilhabe von einer individuellen Zuordnung bzw. Distanzierung abhängig. Damit wurde die Frage nach der eigenen Positionierung zum Nationalsozialismus auch etwas, mit dem sich die Zeitgenossen in den 1930er und 1940er Jahre freiwillig wie erzwungener Maßen intensiv befassten. Durch eine Untersuchung zeitgenössischer Selbstzeugnisse hat das Forschungsprojekt die Art und Weise analysiert, in der Zeitgenossen ihre Beziehung zum NS-Regime bestimmten. Dabei erwies sich das Modell politischer Zuordnung, mit dem das NS-Regime wie die alliierten Besatzer eindeutig zwischen „Nationalsozialisten“, „Mitläufern“ und „Gegnern“ trennten, als unzureichend. Trotz der auf unterschiedliche Weisen sanktionierten herrschaftlichen Aufforderung, Auskunft über das eigene Verhältnis zum Nationalsozialismus abzulegen, begriffen die die einzelnen Deutschen diese Aufforderung auch als biografische Frage und dachten vielfach auch im Privaten darüber nach, in welchem Verhältnis sie und ihr bisheriges Leben zum Nationalsozialismus standen. Dies führte schon zu Beginn der 1930er Jahre dazu, dass Zeitgenossen nach Wegen suchten, bestehende politische und biografische Ansichten mit einer Zuordnung zum NS-Regime zu verbinden, wodurch die schließlich gefundenen Positionen oftmals gerade durch Mehrdeutigkeit geprägt blieben. Dieser Befund eröffnet ebenso ein besseres Verständnis für die massenhafte gesellschaftliche Teilhabe während der NS-Diktatur wie für die Frage, wie die Einzelnen nach 1945 mit ihrer persönlichen NS-Vergangenheit umgingen. Durch die Uneindeutigkeit politischer Positionierungen während der NS-Diktatur war es zahlreichen Deutschen möglich, auch in dem grundsätzlich gewandelten politischen Umfeld der alliierten Besatzung an bestimmte Dimensionen ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus anzuknüpfen und so gleichermaßen die Vorstellung eines kontinuierlichen Lebensverlaufes zu bewahren und Distanz zum Nationalsozialismus zu behaupten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Was meint und nützt das Sprechen von der „Volksgemeinschaft“? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487-534
Janosch Steuwer
- „Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?“ Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen, in: Mittelweg 36, 1 (2014), S. 30-51
Janosch Steuwer/Hanne Leßau
- Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts (Geschichte der Gegenwart, Bd. 10), Göttingen 2015, 365 S. - 978-3-8353-1715-4
Janosch Steuwer/Rüdiger Graf (Hg.)
- „Ein neues Blatt im Buche der Geschichte“. Tagebücher und der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34, in: Frank Bajohr/Sybille Steinbacher (Hg.): »... Zeugnis ablegen bis zum letzten«. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 15.) Göttingen, Wallstein 2015
Janosch Steuwer
- „Jeder wird heute in irgendeiner Form in den Strudel der Ereignisse hineingezogen“. Zum historiografischen und musealen Umgang mit Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre, in: Museumsverband des Landes Brandenburg (Hg.): Entnazifizierte Zone? Zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen, Bielefeld 2015, S. 111-126
Janosch Steuwer