Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewissens im Alltag. Untersuchungen auf Basis standardisierter und intensiv-qualitativer Befragungen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das übergeordnete Ziel unseres Projekts besteht darin, die vielfältigen Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewissens, so wie es im „gewöhnlichen“ Alltag erfahren wird, für die Soziologie empirisch und theoretisch zu erschließen. Im Mittelpunkt stehen die folgenden Fragen: Wie häufig und aufgrund welcher Anlässe regt sich das Gewissen? Welche moralischen und außer-moralischen Standards (Prinzipien, Regeln) werden dabei aktiviert und wie werden diese im Konfliktfall gegeneinander abgewogen? Welche Empfindungen (wie etwa Scham und Schuldgefühle, Reue und Bedauern, aber auch Erleichterung und Befriedigung) gehen mit diesen Erlebnissen einher? Welche Rolle spielen unterschiedliche Formen der sozialen Einbindung und institutionellen Verankerung für das Entstehen oder Ausbleiben von Gewissensregungen? Wie werden Gewissenserfahrungen verarbeitet und mit wem tauschen sich Menschen über sie aus? Das Projekt soll somit Einsichten vermitteln über das Zusammenspiel (den Gleichklang, die Diskrepanz und die Wechselwirkung) von kognitiven und emotionalen Komponenten im Gewissen, über den Zusammenhang von Identitätskonzeptionen bzw. Selbstvorstellungen und Gewissenserfahrungen, über die verschiedenen Arten der Bindung an Moral sowie über die (universale oder partikulare) Verfasstheit moralischer Prinzipien. Hierzu wurden (nach einem Pretest mit Bediensteten der Universität Halle-Wittenberg) mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens (der auch mehrere offene Antwortmöglichkeiten enthielt) Informationen von 1166 Hallenser Bürger gesammelt. Aus dieser Stichprobe wurden zudem 31 Personen für qualitative Intensiv-Interviews ausgewählt. Es zeigte sich: Gewissensregungen treten erstaunlich häufig auf, und sie werden eher als positive denn als negativ-belastende Erfahrung gewertet. Dabei kann zwischen zwei Arten von Gewissenserfahrungen unterschieden werden: Auf der einen Seite wird das Gewissen als eine moralische Instanz wahrgenommen, die vergleichsweise eindeutig vorgibt, was richtig und falsch oder gut und schlecht ist (Gewissen als moralische Richtschnur). Auf der anderen Seite wird Gewissen als Anspruch erlebt, moralische Regeln (meist situationsspezifisch) einer Prüfung zu unterziehen (Gewissen als Reflexionsinstanz). Je nachdem, welcher Erlebnistyp im Vordergrund steht, nehmen ‚positive’ und ‚negative’ Bewertungen jeweils eine spezifische Bedeutung an. Darüber hinaus unterscheiden sich die mit den beiden Funktionen einhergehenden typischen Gefühle und Gedanken. Anhand der qualitativen Interviews konnte auch festgestellt werden, dass die Items standardisierter Fragen des Öfteren in unterschiedlicher Weise verstanden wurden. In unseren verschiedenen Ansätzen zur Typologisierung von Gewissenserfahrungen – bspw. entlang der Dimensionen von Heteronomie und Autonomie, der Intensität von Scham- oder Schuldgefühlen, der Einschätzung der Relevanz des Gewissens als Orientierungsinstanz – konnte festgestellt werden, dass Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewissens hochgradig individualisiert sind. Es zeigten sich zwar erwartbare Zusammenhänge mit Geschlecht, Bildung, beruflicher Stellung und Konfessionszugehörigkeit; diese sind jedoch nur relativ schwach ausgeprägt. Einige Zeitungsmedien haben über das Projekt berichtet: Neue Westfälische Zeitung, Magazin am Wochenende (01./02.12.2012), Badische Zeitung (20.10.2012), Berliner Morgenpost (20.10.2012), Bild Halle (20.10.2012), Schwäbisches Tagblatt Tübingen (23.10.2012), Meldung in der Südwestpresse (23.10.2012), Meldung beim Evangelischen Pressedienst epd (Oktober 2012). Außerdem wurde das Projekt in mehreren Radio-Interviews vorgestellt: DLF, Aus Kultur und Sozialwissenschaften (8.11.2012), WDR5, Neugier genügt (25.10.2012), RBB Kulturradio, Am Vormittag (24.10.2012), Radio PSR (11.11.2012), NDR Info, Blickpunkt Diesseits (03.03.2013), NDR Kultur, Glaubenssachen (24.03.2013), MDR Figarino Kids (Jan. 2014).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2012): Das Gewissen – (k)ein Thema für die Soziologie? In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 41, Heft 4, S. 258-276
Thome, Helmut & Terpe, Sylvia
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(2013): Wenn es plagt, verunsichert oder beflügelt – Erlebnisqualitäten des Gewissens im Alltag. In: wissenswert 01/2013, S. 7-16
Terpe, Sylvia
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(2014): Theoretische Überlegungen zu einer Soziologie des Gewissens und empirische Beispiele aus dem Bereich der Medizin. In: Franz-Josef Bormann & Verena Wetzstein (Hrsg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik. Berlin: de Gruyter, S. 115-135
Thome, Helmut & Terpe, Sylvia
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Triangulation as data integration in emotion research. In: Kleres, Jochen & Flam, Helena (Eds.): Methods of Exploring Emotions. London: Routledge, 2015. S. 285-293. 9781138798694
Terpe, Sylvia
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Moral in Kindheit und Jugend: Eine kritische Diskussion des „Happy Victimizer“-Phänomens aus Weberianischer Perspektive. S. 1- 15 in: Lange A., Steiner C., Schutter S., Reiter H. (eds) Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie. Springer NachschlageWissen. Springer VS, Wiesbaden, 2016. Online ISBN 978-3-658-05676-6
Terpe, Sylvia & Röwekamp, Jennifer