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"Stammes"-Bewusstsein auf Video-CD? Mediale Artikulationen zu Santali-Spielfilmen in vier Regionen Indiens und Bangladeschs

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2010 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 191445706
 
Erstellungsjahr 2015

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Seit der Jahrtausendwende haben populäre Filme und Musikclips in der Sprache Santali eine wichtige Rolle bei der Artikulation eines Gemeinschaftsbewusstseins der „indigenen“ Bevölkerungsgruppe der Santal inne. In Santali – der Muttersprache der Santal mit sechs Millionen Sprechern - wurden bisher 120 populäre Spielfilme und 320 Musikclipalben produziert und diese finden über VCDs, Kino, öffentliche Filmvorführungen und neuerdings auch über Speicherkarten von Mobiltelefonen eine erhebliche Verbreitung bei ihrem ländlichen Zielpublikum in Jharkhand, West-Bengalen und Odisha sowie bei Santal in Assam, Bangladesch oder Nepal. Die Neuformierung einer „indigenen“ Film- und Musikclip-Industrie ist in Südasien kein Einzelfall, sondern es sind zeitgleich Filmzirkulationen in geschätzt hundert weiteren „indigenen“ Sprachen mit einer Gesamtzuschauerschaft von nahezu 150 Millionen Menschen entstanden. Das Forschungsprojekt untersuchte am Beispiel von Santali-VCDs erstmals die Mediatisierung von Kulturentwürfen im Zusammenhang mit einer „indigenen“ Spielfilm-Zirkulation Südasiens umfassend und wertete die empirischen Studien im Hinblick auf eine Erklärung zu gegenwärtigen Prozessen der „Kulturalisierung“ von Medien in Südasien insgesamt aus – nämlich in Bezug auf die Neuetablierung „indigener“ Videoindustrien, aber auch zum Phänomen der „Regionalisierung“ vieler weiterer Medienformen auf dem Subkontinent (wie der Boom regionalsprachlicher Zeitungen oder regionale TV-Sender). Die empirische Grundlage der Forschungsarbeit waren ethnographische multisited – Feldstudien mit Angehörigen der Santal und es wurden Zuschauerstudien in zwei indischen Dörfern in Assam und Odisha, in Mittelklasse-Appartments in Kolkata und bei Studierenden in der Stadt Rajshahi in Bangladesch von einer Dauer von insgesamt sieben Monaten durchgeführt. Ab März 2012 konnten dann Studien zur Produktion von Filmen und Musikvideos vor allem in den Städten Baripada (Odisha) und Jamshedpur (Jharkhand) von neun Monaten unternommen werden. Kern dieser Produktionsstudien war eine Teilnehmende Beobachtung in der Rolle eines Musikvideo-Produzenten bei den Tonaufnahmen und Dreharbeiten für sechs Lieder eines Santali-Musikvideoalbums. Seit Juni 2013 wurde parallel eine Archivierung der bisherigen VCD-Veröffentlichungen in Santali am Frobenius-Institut in Frankfurt am Main und am Department of Film Studies der Jadavpur University in Kolkata vorgenommen und diese Sammlung konnte über eine Online-Datenbank erschlossen werden. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Theoriebildung haben die Forschungserkenntnisse vor allem einen Beitrag zur Debatte um „indigene“ Medien ermöglicht. „Indigene“ Medien werden in der Regel vereinfachend als Ausdrucksmittel „indigener“ Künstler gewertet, welches verhilft lokale Identitäten und Werte zu stärken. Es wird in den Diskussionen dementsprechend die Annahme aufrechterhalten, dass Filmschaffende und „indigene“ Gemeinschaften eine kohärente Entität seien. Die Zuschauerstudien aus dem Projekt verwiesen diesbezüglich jedoch auf die Vielschichtigkeit medialer Identitätsbildungsprozesse innerhalb einer „indigenen“ Gemeinschaft. Es waren nämlich in den verschiedenen Forschungsregionen jeweils unterschiedliche Medienpraktiken bei der Artikulation einer kulturellen Identität der Santal von Belang. Die Feldstudien mit Filmschaffenden der Santal machten unter anderem deutlich, dass eine Abgrenzung zur eigenen Kultur wesentliches Merkmal der Produktionskontexte ist. Nach der im Projekt formulierten These hat für die Entstehung solch „kulturalisierter“ Santali-Medien vor allem eine Selbstverortung der Filmemacher in einem übergreifenden Feld der kulturellen Produktion eine wichtige Bedeutung inne, da sich in diesem sozialen Feld ein Expertenwissen zur Transformation von Filmen sowie zu globalen und südasiatischen Filmnarrativen formiert und verhandelt wird. Der Öffentlichkeit in Deutschland wurde das Projekt in zwei umfassenden Berichten der Frankfurter Rundschau präsentiert: Flirt, Liebe großes Drama. Frankfurter Rundschau 11. 11.2014; Filmkultur in Indien: Jenseits von Bollywood. Frankfurter Rundschau 1.8.2013

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • 2014. India's ‚Indigenous’ Cinemas: A Village Video Night and the Future of Santal Traditional Dances. IIAS Newsletter 67: 10-11
    Schleiter, Markus
  • 2014. VideoCD Crossovers: Cultural Practice, Ideas of Belonging and Santali Popular Films. Asian Ethnology 73 (1-2): 181-200
    Schleiter; Markus
  • 2014. Wo es kein Bollywood gibt: Eine ethnologische Reise zum ''indigenen'' Kino Indiens. Masala Newsletter 9 (2): 12-18
    Schleiter, Markus
    (Siehe online unter https://doi.org/10.11588/mas.2014.2.13776)
  • 2015. Nackte Jarawa: ''Indigene'' Bevölkerung, Indiens Zeitungs-Boom und Praktiken der Ausgrenzung. Paideuma 61: 71-94
    Schleiter, Markus
 
 

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