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Der Protosoziologe Moritz Lazarus im Kontext deutsch-jüdischer Lebenswelten

Antragsteller Dr. Mathias Berek
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2011 bis 2019
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 191614628
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In der Untersuchung der Frage, warum Lazarus trotz seiner Prominenz zu Lebzeiten relativ bald nach seiner Verabschiedung aus der Öffentlichkeit und nach seinem Ableben scheinbar in Vergessenheit geriet, zeigte die Breite der öffentlichen Rezeption zunächst, dass er noch prominenter war anfangs angenommen. Darüber hinaus kann von Vergessen im eigentlichen Sinne keine Rede sein, vielmehr deutet das Material auf ein beinahe wörtliches Ab-Schreiben der öffentlichen Figur Lazarus hin. Mindestens drei Faktoren trugen dazu bei: 1) Die meisten derer, die sich positiv über ihn oder sein Wirken äußerten, zumindest derer, die namentlich bekannt sind, hatten ihn auch persönlich erlebt: als Lehrer, Redner, Gesprächspartner. Sein Einfluss musste also zurückgehen, sobald er mit der sich durchsetzenden Massengesellschaft immer immer weniger Gelegenheit hatte oder ergriff, Menschen in persönlicher Rede zu erreichen und mitzureißen. Die sozialen Aggregate wurden zu groß für einen, dessen Publikum sich im Salon, Disputatorium, Colleg, Rats- oder Festsaal einfand, jedenfalls allerhöchstens 2-3000 Menschen umfassend. Da seine Wirkung so sehr an seine Präsenz als Person und Redner gebunden war, brach sie auch mit jener weg. 2) Seine Texte atmeten in Form und Inhalt bis zum Schluss den universalistisch-humanistisch-idealistischoptimistischen Geist des liberalen Teils des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der für Lazarus als deutschen Juden in der Periode der umgesetzten Emanzipation untrennbar mit seiner biographischen Erfahrung des gesellschaftlichen Aufstiegs verbunden war. Dieser Geist war zum Ende des Jahrhunderts, im Wilhelminischen Kaiserreich ab den 1880er Jahren, erst recht am Anfang des 20., nicht mehr gefragt. Mit seiner von den Werten der Aufklärung geprägten nationalliberalen Weltanschauung, mit seinem stets unpolemischen, freundlichen Auftreten, mit seinem Fernhalten vom „Parteienstreit“, mit seinem deutsch­jüdischen Patriotismus und Optimismus stand er für den liberalen Teil seiner Generation - und ist deshalb mit dem Ende des Liberalismus anachronistisch geworden. Er blieb seinen in der Mitte des Jahrhunderts geprägten Werten treu und sich gleich, die gesellschaftlichen Verhältnisse aber änderten sich. Weil er so sehr in seinerZeit verankert und deren prominenter Vertreter war, zog er mit deren Ablösung zunehmend Unwillen auf sich. So modern und seiner Zeit voraus seine völkerpsychologische Sozialtheorie teilweise war, so unmodern und überholt erschien der politische Mensch Lazarus seinen Kommentatoren ab 1880. 3) Obwohl er es nie verleugnete oder versteckte, war sein Jüdischsein vom Beginn seiner Karriere an äußerst selten Thema. Das änderte sich erst mit dem Ausbreiten des Antisemitismus von den radikalen Rändern der Öffentlichkeit in deren respektable Mitte. Abgesehen von den Debatten um die Reformsynoden wurde Lazarus vor allem seit Heinrich von Treitschkes offener Erklärung, die Juden seien der Deutschen Unglück, öffentlich immer mehr als das wahrgenommen, was er auch vorher schon war: ein preußischer, ein deutscher Jude. Nur, dass das nun zu einem Problem wurde. War er bis dahin der gefeierte Redner, Populärphilosoph und Völkerpsychologe und seit den Synoden auch der Jude, aber neben jenen anderen Tätigkeiten, wurde nun, nachdem er begonnen hatte, öffentlich gegen den Antisemitismus aufzutreten, sein Jüdisch-Sein immer untrennbarer mit allen seinen Aktivitäten verbunden. Die Reaktionen selbst ihm freundlich gesonnener christlicher Deutscher zeigen, dass nur wenige ihn vollgültig als wirklich gleichberechtigten Teil eines aufgeklärt-idealistischen gebildeten Deutschlands anerkannten. Als unter Wilhelm II. der Antisemitismus die Gesellschaft weitgehend durchdrungen hatte, war der humanistisch-idealistische, nationalliberale deutsche Jude Lazarus nurmehr ein Relikt der Vergangenheit, dessen in freundlichem Ton gehaltenen Weltweisen-Ratschläge immer weniger gefragt waren. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde damit die Frage relevant, wie deutsch-national eigentlich ein nationalliberaler deutscher Jude im 19. Jahrhundert sein konnte. Die Rezeption der Ethik des Judentums steht beispielhaft für die Wahrnehmung der Person Lazarus und seines Gesamtwerks am Ende seines Lebens: ein Vertreter pluralistischer, in ihrer Religiosität eher subjektivistischer als gesetzestreuer Ethik fasst aus Anlass der antisemitischen Angriffe und, um die inneren Ambivalenzen reformierten Judentums zwischen Tradition und Moderne zu heilen, all sein religiöses Wissen auf philosophischer und völkerpsychologischer Basis in einem Opus zusammen und wird dafür im liberalen (jüdischen wie nichtjüdischen) Diskurs geliebt, ohne die Ausbreitung der antisemitisch inspirierten nationalen Vereinheitlichung damit aufhalten zu können.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Symbiose oder Holocaust - Zwischenstand einer schwelenden Debatte, in: Medaon - Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 6 (2012), Nr. 11, S. 1-4
    Mathias Berek mit Anna-Dorothea Ludewig
  • Jüdische Aufklärung, in: Thoma, Heinz (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe - Konzepte - Wirkung, Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2015, S. 102-107
    Mathias Berek
  • Neglected German-Jewish Visions for a Pluralistic Society: Moritz Lazarus, in: Leo Baeck Institute Yearbook 60 (2015), S. 45-59
    Mathias Berek
  • Moritz Lazarus : Deutsch-jüdischer Idealismus im 19. Jahrhundert. - Wallstein-Verlag, Göttingen, 2020. Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden ; 51. 362 S.
    Mathias Berek
 
 

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