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Wahnsinn in Hamburg - psychische Devianz im Kontext kolonial-maritimer Urbanität (ca. 1890-1930)

Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2006 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 19309483
 
Erstellungsjahr 2010

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Durch Probleme sprachlicher und kultureller Verständigung sowie die Abwicklung als negativ perzipierter kultureller, aber auch sexueller oder körperlicher Alterität über die psychiatrische Schiene entstand im Rahmen der transatlantischen Migration ein spezifischer Schwellenraum zwischen psychisch krank und gesund. Der „Migranten-Wahn" besaß ein entsprechend hohes Maß an Unbestimmtheit und Unschärfe. Die „geisteskranken Rückwanderer" provozierten in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg neuartige Sprachbarrieren sowie auch kulturelle Grenzziehungen (Stigmatisierung) durch die behandelnden Psychiater. Im anstaltsfunktionellen Kontext entstanden liminale Räume zwischen Arzt und Patient, Bei den progressiven Paralytikern, die nach dem Ersten Weltkrieg in Hamburg mit Malariafieber behandelt wurden, war der spezifische Schwellenraum zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit nicht aus externen Prozessen entstanden, sondern gewollt. Er war immanenter Bestandteil der neuen Therapie und ihrer besonderen Zielsetzung, die in einem auf Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit basierenden Remissionsbegriff ihren Ausdruck fand. Remission wurde von einem auf „normalen" Laborparametern und Symptomfreiheit gründenden Gesundheits- und Heilungsbegriff gelöst und zielte - basierend auf dem Konzept einer besonderen Individualnorm - auf die Schaffung eines „intermediate stage between the hospital and civil society". Dieser Schwellenraum als angestrebter Dauerzustand der mit Malaria (und Rekurrensfieber) behandelten Paralytiker hatte in der Therapie von Kriegsneurotikern im Ersten Weltkrieg seine Wurzeln. Der Remissionsbegriff im Rahmen der Fiebertherapie strukturierte auf eigene Weise die Schwelle zwischen Anstaltsinternierung und Freiheit. Sowohl bei den Friedrichsberger Rückwanderer- Patienten als auch bei den progressiven Paralytikern konnte eine deutliche Geschlechterdifferenz festgestellt werden. Migrantinnen waren in stärkerem Maße einer kritischen Aufmerksamkeit der US- Behörden auf Ellis Island und in den USA, möglicherweise auch der Hamburger Behörden ausgesetzt. Im Rahmen der Psychopathologisierung von Migranten war die Schwelle bei Frauen tiefer gesetzt als bei Männern. Im Rahmen der Implementierung der Malaria-Fiebertherapie bei progressiver Paralyse wurde die Behandlung von Frauen nach der neuen Methode eher als zweitrangig betrachtet. Die Wiederherstellung männlicher Leistungskraft war das eigentliche Ziel.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • „Die sprachliche Verständigung ist selbstverständlich recht schwierig." Die „geisteskranken Rückwanderer" aus Amerika in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg 1909. In: Medizinhistorisches Journal 43 (2008), S. 231-263
    Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach
 
 

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