Eine Fallstudie in angewandter Erkenntnistheorie: Der Sonderfall medialer Berichterstattung im Lichte der Testimony-Debatte
Final Report Abstract
Im Mittelpunkt der traditionellen Erkenntnistheorie steht das erkennende Einzel-Subjekt, typischerweise konzipiert als autonom Wissender. Dem Phänomen des Zeugnisses anderer (engl. testimony), d. h. des Erwerbs von Wissen durch Berichte anderer Personen, tragen die traditionellen Ansätze kaum Rechnung. Erst mit der relativ jungen Testimony-Debatte, welche die sozialen Bedingungen der Meinungsbildung und Erkenntnisgewinnung hervorhebt, rückt diese bedeutsame epistemische Quelle in den Fokus der Betrachtung. Nur eine untergeordnete Rolle spielt hier allerdings bisher die Betrachtung der Medien als zeugnisgebende Instanzen, obwohl die Massenmedien in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart von großer Relevanz für Erkenntniserwerb und -weitergäbe sind. Es lassen sich darüber hinaus eine Reihe von Besonderheiten ausmachen, welche diese Zeugnisquelle deutlich von direkten zwischenmenschlichen testimonialen Akten abheben. Dementsprechend bestand die Zielsetzung des Forschungsprojekts darin, diese epistemischen Besonderheiten aufzuzeigen und zu analysieren. Durchgeführt wurde dieses Vorhaben anhand einer Fallstudie zur Berichterstattung der Tagesschau. Diese Beschränkung des Untersuchungsgegenstands medialer Berichterstattung erwies sich als notwendig, da unterschiedliche mediale Berichtsformen über jeweils verschiedene Bedingungen verfügen, unter denen sie als epistemische Quellen genutzt werden können. Im Einzelnen wurde mit einer Analyse der wesentlichen Produktionsbedingungen, der Gestaltungskriterien und der Kommunikationsbedingungen dieser Fernsehnachrichtensendung die Anforderungen auf Seiten der Nachrichtenproduzenten und damit der potentiellen Zeugnisgeber genauer ausgeleuchtet. Es zeigte sich, dass eine Vielzahl von Faktoren unmittelbaren Einfluss auf die Auswahl der Themen, die Gestaltung der einzelnen Beiträge und die zu Grunde liegenden Intentionen der beteiligten Akteure haben. Insbesondere das arbeitsteilige Erstellen der einzelnen Meldungen, verbunden mit der Tatsache, dass neben sendereigenen Nachrichtenbeiträgen (Texten und Bildern) auch verstärkt fremdes Material (v.a. in Form von Bildbeiträgen und Meldungen von Nachrichtenagenturen) Verwendung findet, sowie der ökonomische Rahmen der Nachrichtenproduktion zeigten dabei die Herausforderungen für eine erkenntnistheoretische Betrachtung telemedialer Berichte auf Darüber hinaus wurden im Einzelnen verschiedene Argumentationsmöglichkeiten vorgeschlagen und untersucht, die ein Rezipient vorbringen könnte, wenn er nach den Gründen gefragt würde, warum er die Tagesschau-Berichterstattung für glaubwürdig hält. Konkret ging es dabei um die Frage, warum ein Rezipient die Ansicht vertreten könnte, seine epistemische Pflicht erfüllt zu haben, wenn er als Rechtfertigung für eine Überzeugung, dass p, anführen würde, er habe, dass p, im Fernsehen bzw. in den Nachrichten gesehen. Im Zuge der Analyse erwies sich, dass viele der möglichen Argumentationswege - z.B. Nachrichtenbilder als Belege für eine wahre Berichterstattung anzusehen oder die rechtlichen Rahmenbedingungen der öffentlich-rechtlichen Sender als Grundlage für eine solche Beurteilung heranzuziehen - mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden sind. Die aufgezeigten Probleme ergaben .sich durchweg durch eine Gegenüberstellung der Annahmen des Rezipienten mit den zuvor explizierten Produktionsbedingungen, Gestaltungskriterien und Kommunikationsbedingungen der Tagesschau. Als Konsequenz ergab sich aus dieser Untersuchung die Förderung, dass ein Rezipient für eine angemessene Beurteilung der Glaubwürdigkeit telemedialer Berichte über ein entsprechendes Hintergrundwissen der Produktionsbedingungen etc. von Fernsehnachrichten verfügen muss. Expliziert wurde dieses Ergebnis in der Forderung nach Medienkompetenz auf Seiten des Rezipienten, wenn er die Berichterstattung der Tagesschau in adäquater Weise als Zeugnis verwenden will. Der Auseinandersetzung mit den Tagesschau-Berichten als möglichen Instanzen des Zeugnisses anderer lag dabei die Aufarbeitung der erkenntnistheoretischen Debatte zur Testimonialerkenntnis zu Grunde. Neben der Analyse der verschiedenen bisher vertretenen Positionen zum epistemischen Status des Zeugnisses anderer - Reduktionismus, Anti- Reduktionismus, lokaler Reduktionismus und Dualismus - stand dabei v.a. die Explizierung des Zeugnisbegriffs im Vordergrund der Untersuchung. Dieser Arbeitsschritt des Forschungsprojekts erwies sich dabei als umfangreicher als ursprünglich geplant, da sich herausstellte, dass der Begriff des Zeugnisses in der bisherigen Debatte relativ unterbestimmt verwendet wurde. Angeregt durch die Arbeiten von Jennifer Lackey wurde dementsprechend ein eigener Vorschlag zur Definition testimonialer Akte für den paradigmatischen Fall der Face-to-Face- Kommunikation erarbeitet, der dem dualen Charakter dieser epistemischen Quelle Rechnung trägt. Entwickelt wurde ein Begriff des S-Zeugnisses (Sprecherperspektive) und des H-Zeugnisses (Hörerperspektive), da die Anwendungsbereiche dieser beiden Begriffe nicht deckungsgleich sind. So kann einerseits ein Hörer eine Äußerung eines Sprechers als Zeugnis verwenden, obwohl der Sprecher nicht intendiert hat, ein Zeugnis abzulegen. Andererseits kann aber auch ein Sprecher mit einer Äußerung einen testimonialen Akt vollziehen, ohne dass ein Hörer seine Mitteilung als Zeugnis beurteilt. Diese Zeugnisdefinition zählt zu den wesentlichen Arbeitsergebnissen des Forschungsprojekts und lieferte darüber hinaus auch die Grundlage für eine angemessene Analyse des Anwendungsfalls der Tagesschau-Berichterstattung, Grundsätzlich wurde dafür plädiert, dass es nicht eine Definition des Zeugnisses anderer geben könne, die gleichermaßen allen epistemischen Phänomenen gerecht wird, die in seinen Anwendungsbereich fallen. Es erwies sich dagegen als sinnvoll für die Erstellung und Nutzung telemedialer Berichte als epistemischer Quelle weitere Begriffsexplikationen vorzunehmen, die in einer Spezialisierungsrelation zu den Begriffen des S- und des H-Zeugnisses des paradigmatischen Falls stehen. In diesem Sinne ist das Zeugnis anderer nicht als eine Bezeichnung für ein einheitliches epistemisches Phänomen zu betrachten, sondern für eine Klasse unterschiedlicher Phänomene, die mittels einer Spezialisierungsrelation miteinander in Beziehung stehen und von denen die Berichterstattung der Tagesschau eine Instanz bildet.