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Stimme und Gesang in der populären Musik der USA (1900 - 1960)

Fachliche Zuordnung Musikwissenschaften
Förderung Förderung von 2011 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 197472623
 
Erstellungsjahr 2015

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In fast allen Genres und Stilrichtungen der populären Musik kommt der Stimme und dem Gesang eine zentrale Bedeutung zu. Im Forschungsprojekt wurde am Beispiel von Sängerinnen und Sängern aus den Bereichen Vaudeville, American Popular Song und Musical, Gospel Music, Blues und Rhythm & Blues, Jazz, Country Music und Folk Music sowie Rock'n'Roll und früher Soul untersucht und dargestellt, welche vokalen Gestaltungsmittel in populärer Musik zum Einsatz kommen, wie diese analysiert und charakterisiert werden können, wie Gesangsstile einander über Genregrenzen hinweg beeinflusst haben und wie durch sie Images, kulturelle Stereotypen und kollektive Identitäten geprägt und widergespiegelt wurden. Übergreifendes Ziel des Forschungsprojektes war es, Forschungslücken hinsichtlich der Beschreibung und Interpretation des vokalen Ausdrucks in populärer Musik zu schließen. Zu diesem Zwecke wurden adäquate Forschungsansätze und Analysemethoden entwickelt und diese am Beispiel des populären Gesangs in den USA bis 1960 erprobt. Da die populäre Musik der USA im Untersuchungszeitraum weltweit andere regionale Traditionen beeinflusst, überlagert oder gar verdrängt hat, lassen sich viele Ergebnisse des Forschungsprojektes auch für die Erforschung anderer Stilrichtungen, Zeiten und Regionen der populären Musik fruchtbar machen. Durch die Verknüpfung von musikalischer Analyse und kulturgeschichtlicher Interpretation sollte im Rahmen des Projekts zugleich die oftmals beklagte Kluft zwischen musik- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen in der Popmusikforschung exemplarisch überbrückt werden. Im Zentrum des Projekts stand zunächst die Analyse der vokalen Gestaltungsmittel anhand von Tondokumenten. Dies schloss eine Entwicklung und Erprobung adäquater Analysemethoden ein, u.a. durch eine systematische Analyseterminologie vokaler Gestaltung, durch grafische Darstellungsweisen mit erweiterter Notenschrift sowie durch messtechnische Visualisierungen mithilfe von Computerprogrammen. Dabei wurde u.a. festgestellt, dass vokale Gestaltungsmittel von den Sängerinnen und Sängern in einer überraschenden Vielfalt und Differenziertheit eingesetzt werden. Vielfältig sind bereits die Übergänge zwischen Sprechen, Singen, Rufen und Schreien. Die große Differenziertheit der vokalen Gestaltung zeigt sich etwa darin, dass ein Aufwärtsgleiten der Tonhöhe auf unterschiedliche Weise ausgeführt wird. Vielfältig sind auch die verschiedenen Einsatzweisen einer gezielt rauen Stimmgebung oder des Falsettregisters bzw. der Kopfstimme. Vokale Ausdrucksweisen, so konnte zudem gezeigt werden, überschreiten vielfach Genregrenzen. So gibt es nicht nur fließende Übergänge zwischen der vokalen Gestaltung im Gospel und im Blues, sondern auch zwischen jener im Rhythm & Blues, Rock’n’Roll und Soul. Vielfach spiegelt sich in den Vokalstilen weniger das musikalische Genre, als vielmehr das individuelle vokale Profil der Sängerinnen und Sänger wider, die sich mitunter Gestaltungsmittel aus ganz unterschiedlichen Gesangstraditionen bedienen. Beispielsweise knüpfen manche Sängerinnen und Sänger am ›Mainstream‹ des populären Gesangs in den USA an, der sich aus dem Crooning und Jazzgesang der 1930er-Jahre heraus entwickelt hat, obwohl sie selbst anderen Genrekontexten entstammen. Trotz der Vielfalt und der individuellen Wandlungen von Gesangsweisen bilden sich allerdings nicht selten individuelle vokale Eigenheiten heraus, die eine Stimme wiedererkennbar werden lassen. Allerdings hängt die Wiedererkennbarkeit von Gesangsstars nicht nur mit ihren Stimmen, sondern zugleich mit ihrem gesamten, zunehmend medial geprägten Auftreten, ihrer Aufführungspersona und ihrem Starimage zusammen. Das Image wiederum nimmt Bezug auf kulturelle Werte und Stereotype, die einem historischen Wandel unterliegen. Daher war zum Verständnis der vokalen Ausdrucksweisen deren Interpretation im Kontext von Starimages, kulturellen Stereotypen und Prozessen der Identitätskonstruktion in den USA zwischen 1900 und 1960 unumgänglich. Leitfragen dieser Interpretation waren Konstruktionsprozesse von Identitäten anhand von sozialen Klassen, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter sowie regionalen Unterschieden. So konnte gezeigt werden, wie sich das Bild des Afroamerikaners und der Afroamerikanerin, das in verschiedenen Genres populärer Musik zum Ausdruck kommt, im Laufe des Untersuchungszeitraums kontinuierlich gewandelt hat: vom rassistisch motivierten Bild des tollpatschigen Jim Crow im Vaudeville zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin zum selbstbewussten ›Cool Cat‹, der um 1960 vom frühen Soul-Star Sam Cooke verkörpert und für die Zeit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung richtungsweisend wurde. Dieser Wandel geht mit einem Wandel der Vokalstile einher. Auch die Veränderungen der Geschlechterrollen sind sowohl an den Images der Gesangsstars als auch an den von ihnen verwendeten vokalen Ausdrucksmitteln ablesbar, wie sie vor allem im Crooning und Torch Singing, aber auch in Country Music und Rock’n‘Roll der 1950er zur Geltung kommen. Die entsprechenden detaillierten Analysen von Vokalgestaltung und Image haben allerdings auch gezeigt, dass sich dieser Wandel oft nicht geradlinig, sondern vielmehr in Schlangenlinien vollzieht und dass Veränderungen im Gesang und im Image nicht immer kongruent zueinander verlaufen. Es bleibt daher unumgänglich, stets genau hinzuschauen und hinzuhören auf das vielfältige und differenzierte Wechselspiel von vokalen Klängen, Bildern und Texten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Methoden zur Analyse der vokalen Gestaltung populärer Musik. In: Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung e.V., 12 (2014)
    Tilo Hähnel, Tobias Marx, Martin Pfleiderer
  • Vocalmetrics. An interactive software for visualization and classification of music, in: Proceedings of the 9th Audio Mostly: A Conference on Interaction With Sound, 2014, October 1-3, Aalborg, Dänemark
    Axel Berndt, Rainer Groh, Tilo Hähnel, Martin Pfleiderer und Felix Schönfeld
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1145/2636879.2636884)
  • Vokale Ausdrucksmuster im Kontext von Star-Images und kulturellen Stereotypen. Eine exemplarische Analyse der Vokalstile von Bert Williams und Bing Crosby. In: Samples. Online- Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung e.V., 12 (2014)
    Tilo Hähnel
  • Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA (1900-1960). Bielefeld: transcript 2015
    Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt (Hrsg.)
  • Popstimmen. Theoretische und methodologische Überlegungen zur vokalen Gestaltung populärer Musik, in: Singstimmen. Ästhetik – Geschlecht – Vokalprofil (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 28), hrsg. von Saskia Woyke u.a., Würzburg: Könighausen & Neumann 2017. S. 109 ff.
    Martin Pfleiderer
 
 

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