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Analyse der kooperativen und normativen Formbestimmtheit menschlicher Wahrnehmung in den Aspekten Phänomenologie, Modus ("joint attention", Perspektivität

Fachliche Zuordnung Theoretische Philosophie
Förderung Förderung von 2012 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 201093211
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Dass das Wahrnehmen eine Bedingung der Möglichkeit des Handelns ist, ist unstrittig. Dass das Handeln Bedingung der Möglichkeit menschlichen Wahrnehmens sei, scheint dagegen abwegig. Doch die hier vorgenommene Verabsolutierung der mit der These vom Wahrnehmen als notwendiger Bedingung des Handelns thematisierten zeitlichen und sachlich-inhaltlichen Verhältnisse in Form einer strengen Linearität der Verarbeitungsabfolge voneinander separierter Prozesse - von der Wahrnehmung des sensorischen Inputs (der 'Reize'), über dessen (kognitive, emotionale und motivationale) Verarbeitung hin zur Reaktionsauswahl und motorischen Realisierung (qua Handlung) - steht mittlerweile in Frage, weil zum einen praktisch tagtäglich erfahrbar ist, dass all unser Handeln wahrnehmungsgeleitet ist, und zum anderen inzwischen experimentell gut belegt wurde, dass Wahrnehmungsfähigkeiten wesentlich motorisch aktive Fähigkeiten sind. So stimmen moderne Wahrnehmungstheorien darin überein, dass motorische Aktivitäten kein dem Wahrnehmen äußerliches oder gar hinderli­ ches Beiwerk sind, sondern für unser Wahrnehmen konstitutiv. Folglich können Sensorisches und Motorisches nicht derart voneinander separiert sein, wie es das traditionelle Modell behauptet, noch bedarf es in jedem Fall des (bewussten) Denkens bzw. höherer kognitiver Fähigkeiten, um beides miteinander zu vermitteln. Vielmehr sind sie bereits im Wahrnehmungsprozess selbst intrinsisch miteinander verbunden. Und diese Verbindung ist Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung von Objekten und ihren Eigenschaften, also einer strukturierten Wahrnehmung, wie sie uns geläufig ist. Aus der Tatsache, dass all unser Handeln wahrnehmungsgeleitet ist, weil eine effektive und effiziente Handlungssteuerung sonst nicht möglich wäre, folgt nicht nur, dass ein Großteil unserer Wahrnehmungen im Handeln erworben, ja regelrecht produziert wird, sondern auch, dass sich unsere Wahrnehmungsfähigkeiten wesentlich im Handeln entwickeln, d.h. zu dem geformt werden, was sie sind. Wie dies letztendlich neurophysiologisch realisiert ist (ob als Muster mit sensorischen Inputs korrelierter Bewegungen und ihrer Gesetze, ob als gemeinsame Merkmalskodes für Wahrnehmungsgehalte und Handlungspläne im Format der distalen Referenz, oder auch noch anders) wird weiterhin Gegenstand der empirischen Forschung sein (müssen). Als weitgehend unstrittig sollte aber schon gelten, dass menschliches Handeln normalerweise nicht nur in einem sozialen Kontext stattfindet, sondern meist ein in irgendeiner Form mit Anderen koordiniertes oder gar kooperatives Handeln. Daher müssen unsere Wahrnehmungen schon zur bloßen Koordination von Handlungen aufeinander abgestimmt und 'geeicht’ sein. Ein solches Maß an Abstimmung und Übereinstimmung in der Wahrnehmung kann nicht allein durch die artspezifische, biologisch-genetisch bedingte Ähnlichkeit unserer Sinnlichkeit (bzw. Sensomotorik) oder durch ein biologische Fundament unserer Fähigkeit zur gemeinsamen Bezugnahme erklärt werden, sondern nur, wenn unser Handeln als konstitutiv für unser Wahrnehmen gilt. Entsprechend muss menschliches Wahrnehmen durch etwas Normatives (im Raum von richtig und falsch Stehendes und damit bestimmten Erfüllungsbedingungen Unterliegendes) hin geeicht sein. Die biologische Ausstattung aller Individuen der Art homo sapiens legt nur den Möglichkeitsraum sowohl für den Modus als auch für die Form der Phänomene der Wahrnehmung, d.h. möglicher Identifikationen und Unterscheidungen im Wahrnehmen fest, nicht aber, wie diese letztlich im und durch das gemeinsame Handeln auf mögliches Handeln hin bestimmt werden. Menschliches Wahrnehmen muss daher wesentlich kooperations­theoretisch verstanden werden und unterscheidet sich entsprechend kategorial von tierischem Wahrnehmen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Vernunft ohne „Gespenst in der Maschine“? Überlegungen zu und im Anschluss an Ryle, in: RödI, S.; Tegtmeyer, H. (Hrsg ): Sinnkritisches Philosophieren. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 129-166
    Henning, Claudia
  • Die empraktische Formung menschlicher Wahrnehmung, in: Caysa, K.; Benkert, H. (Hrsg.): Denken des Empraktischen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2016, S. 165-198
    Henning, Claudia
 
 

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