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Neuro-Enhancement als pädagogische Herausforderung

Fachliche Zuordnung Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft
Förderung Förderung von 2011 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 202040577
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Seit den Jahren 2008/2009 lässt sich eine verstärkte öffentliche Diskussion um die bioethische Problematik des Neuro-Enhancement beobachten. Bei dieser geht es um die Frage, ob bisher therapeutisch gegen AD(H)S eingesetzte Psychopharmaka nicht auch zur Förderung von Konzentration und Gedächtnisleistungen, also zur Optimierung von Gesunden eingesetzt werden sollten. Diese Debatte wird geführt, obwohl weder die Wirksamkeit oder Langzeitfol-gen bisher hinreichend untersucht wurden und obwohl die Einnahme der Mittel jenseits eines therapeutischen Zwecks gesetzlich verboten ist. In dieser Debatte werden neben anthropologischen, ethischen, gesellschafts- und gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen auch pädagogische Argumente verwendet. Fragen der (leichteren) Leistungserbringung und Förderung von Autonomie und Authentizität werden mit solchen der sozialen Gerechtigkeit unter Konkur-renzbedingungen und der elterlichen Verantwortung konfrontiert. Erstaunlich ist dabei, dass diese Diskussion im pädagogischen Diskurs keine nennenswerte Resonanz erfahren hat. Die zu untersuchende Frage war daher, wie der pädagogische Diskurs gerade dort, wo Lei-stungskonkurrenz dominiert: in der gymnasialen Oberstufe, diese Herausforderung neutralisiert und was ihn daher vom öffentlichen Diskurs unterscheidet. Der erste Teil der Frage sollte mit Hilfe einer Diskursanalyse von Leitfadeninterviews mit OberstufenschülerInnen, Eltern und LehrerInnen beantwortet werden, der zweite durch eine Analyse des öffentlichen Diskurses und der ihn regierenden Signifikanten. In den Leitfadeninterviews zeigte sich die Schule primär als eine um Leistung zentrierte Institution. Dabei rückten pädagogische Problematiken (Disziplin, Konflikte zwischen Schülern usw.) ebenso in den Hintergrund wie jene, die mit der Kopplung des Leistungsprinzips an Fragen der Selektion und der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind: Die Schule wurde als Ort figuriert, an dem das Leistungsprinzip als Prinzip sozialer Gerechtigkeit, als legitimes Medium der Produktion sozialer Ungleichheit wirklich funktioniert. Nicht nur vor dem Hintergrund der Diskussionen um Leistungskonkurrenz, Chancengleichheit oder die fehlende Vergleichbarkeit von Benotungen muss eine solche Perspektive erstaunen; sie arbeitet sich zugleich an einer unauflöslichen systematischen Problematik der im Leistungsprinzip behaup-teten Reziprozität von Anstrengung und Erfolg ab. Die Untersuchung zeigt, mit Hilfe welcher heterogenen und gegenläufigen Strategien das (unbegründbare) Leistungsprinzip zum zentra-len Signifikanten schulischer Gegenstandsbestimmungen und Positionierungen wird. Vor diesem Hintergrund kann die Frage eines möglichen Hirndopings in ihrer möglichen Bedeutsamkeit nivelliert, verschoben oder für den schulischen Bereich als irrelevant behauptet werden. Der öffentliche Diskurs, wie er in Zeitungen, Radiosendungen oder Internetblogs geführt wird, folgt – bei allen kontroversen Positionierungen und Problembestimmungen – der Spur, die durch die bioethische Debatte vorgegeben wurde. Diese besteht darin, dass von der Figur eines selbstbestimmten Individuums ausgegangen wird, das in liberaler Wendung gegen jede staatliche Bevormundung in Schutz zu nehmen ist. Diese Figur wird dabei nicht nur vorausgesetzt, sondern auch diskursiv produziert, indem alle möglichen Entscheidungskriterien, die dieses Individuum binden oder verpflichten könnten, in Frage gestellt werden. Die Unterscheidung von ethischen Begründungen und sozialen Selbstverständlichkeit wird dabei ebenso problematisch wie die von subjektiver Vorzugswahl und gesellschaftlicher Sinnbestimmung: Die Auflösung von Urteilskriterien schafft den Raum für ein selbstbestimmtes Individuum, dessen Souveränität sich auch noch auf die Verfügung über die es andererseits steuernden eigenen Hirnleistungen erstreckt. Der öffentliche Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Selbstbestimmung affirmiert immer schon deren Bedeutung – eine Bedeutung, die als solche in den schulischen Leistungsdiskursen keine Entsprechung findet.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Normalisierungen des Individuellen. Haltungen einer unkritischen Kritik: In: Bierbaum, H./Bünger, C./Kehren, Y./Klingovky, U. (Hrsg.): Kritik – Bildung – Forschung. Pädagogische Orientierungen in widersprüchlichen Verhältnissen, Opladen 2014, S. 273-289 (Budrich)
    Alfred Schäfer
  • Leistung – ein Einleitung. In: Schäfer/Thompson (Hrsg.) 2015, S. 7-35
    Schäfer, A./Thompson, C.
  • Leistung, Paderborn 2015 (Schöningh)
    chäfer, A./Thompson, C. (Hrsg.)
  • Mythos und Rationalisierung. Anmerkungen zur (nicht nur pädagogischen) Bewährungsdynamik. In: Böhme, J./Hummrich, M./Kramer, R.-T. (Hrsg.): Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs, Wiesbaden 2015, S. 381-400 (VS Springer)
    Alfred Schäfer
  • Schulische Leistungsdiskurse. Zwischen Gerechtigkeitsversprechen und pharmazeutischem Hirndoping, Paderborn 2015 (Schöningh)
    Alfred Schäfer
  • Selbstbestimmte Leistungssteigerung. Die Diskussion um das pharmazeuti-sche Neuro-Enhancement. In: Schäfer/Thompson (Hrsg.) 2015, S. 151-180
    Alfred Schäfer
 
 

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