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Die Kunstform gesprochenes Gedicht. Zur lyrischen Bedeutungsentfaltung aus Stimme und Klang

Fachliche Zuordnung Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung Förderung von 2012 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 206755505
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Aus dem Projekt ist eine Monographie mit dem Titel "manchmal sehr mitreißend - Wie Lyrik sich anhört" entstanden. Im Vergleich mit der Mehrzahl bisheriger Annäherungen an die Spezifik der Sprach- und Sprechform Lyrik unternimmt das Buch mehrere Akzentverschiebungen. Einerseits untersucht es die gesprochene Lyrik als etwas Eigenständiges, das im Vergleich zum gedruckten Text keine 'sekundäre' oder defizitäre Form darstellt. Andererseits versucht dieser Ansatz, die Besonderheiten lyrischer Sprachverwendung und -Wahrnehmung durch die Verschränkung theoretischer Reflexion mit qualitativ-empirischen Methoden genauer zu fassen. Mit der zweiten Akzentverschiebung war eine stärkere Konzentration auf die Wahrnehmungen der RezipientInnen verbunden. Das Buch kann damit nicht nur das tatsächliche rezeptive Geschehen bei fünf im Rahmen des Projekts veranstalteten Dichterlesungen beleuchten. Es gibt auch eine theoretische Grundlegung hörbaren dichterischen Sprechens, die skizziert, warum die lyrische Sprachform im vorrangig narrativ geprägten Paradigma literarischer Sprachwahrnehmung unerklärbar bleiben muss. Dem Projekt kam die günstige Forschungssituation zugute: die kulturwissenschaftlich-philosophisch geprägten Arbeiten zur Stimme sowie die Entwicklung performativer Ästhetiken in den letzten Jahrzehnten legten wichtige theoretische Grundlagen. Die Erkenntnisse aus diesen Richtungen konnten auf die Spezifik gesprochener Lyrik hin befragt, angewandt und erweitert werden. Denn die besondere Bedeutung der Mündlichkeit für diese Gattung speist sich nicht nur daraus, dass die präsentische Lesungssituation wie ein Katalysator für die poetische Erfahrung wirkt. Vielmehr erzeugt sie ein spezifisches Interaktionsmuster zwischen Präsenz- und Sinneffekten, das die Strukturen nicht-narrativer Sprachformen trägt. Hier rückten die literarische Form des Selbstgesprächs (wie sie von Günter Butzer behandelt wird) sowie das Phänomen des alltäglichen 'inneren Sprechens' (wie es von Lev Vygotskij erforscht wurde) in den Blick. Unter der Perspektive des Selbstgesprächs bzw. 'inneren Sprechens' konnte sich der Frage angenähert werden, warum die poetische Erfahrung dann als gelungen empfunden wird, wenn die Rezipienten sie als Übergang in einen Modus wahrnehmen, in dem die Sprache sich mit ihren eigenen Mitteln überschreitet und zugleich mit den innersten Voraussetzungen der Rezipienten interagiert. Die HörerInnen üben sich vermittels des gehörten Gedichts - meist ohne sich dessen bewusst zu sein - in einer Form der Selbstansprache, zu der die Anredeformen der Lyrik sie ermuntern und die 'ansprechend'-gegenwärtige Stimme des Dichters, der Dichterin sie provoziert. Allerdings geschieht dies nicht mehr, wie in einigen Traditionen des literarischen Soliloquiums, im Sinne einer Selbsterziehung entlang vorgegebener Sätze. Es geschieht als Erkundung, spekulativ und explorativ, zu der die gleich verfahrende - nämlich als Ansprache und Weltformung, nicht als Ausdruck konzipierte - Lyrik sie einlädt, und die der grundlegenden weit- und identitätsbildenden Funktion 'inneren Sprechens' gleicht, wie Lev Vygotskij sie beschreibt. Die Bedeutung des Mündlichen für die Lyrikrezeption muss sich damit nicht in Verweisen auf 'Musikalität', Zauberspruch oder bestimmte Traditionen erschöpfen. Sie ist strukturell; in der Kreuzung mit den Sprachformen der Lyrik erzeugt die Mündlichkeit Sprachwahrnehmungen, die mit grundlegenden Formen des Denkens zur Ich-Welt-Verhandlung in Beziehung steht. Die Monographie unternimmt einen ersten Schritt zur theoretischen Grundlegung gesprochener Lyrik von der Rezipientenseite her. Der aus dem Projekt entstandene Aufsatz versucht zu zeigen, wie sich auf dieser Basis Fragen an konkrete Beispiele einzelner Dichterstimmen richten lassen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • "Unabweisbare Freiheit - Zur Entwicklung von Sinn beim Hören von Gedichten." In: Zeitschrift für Slavische Philologie, Bd. 70:1, 2014. S. 57- 87
    Anja Utler
 
 

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