Potentiale der Polyphonie im frühen Minnesang. Eine Neuperspektivierung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die vom Projekt anvisierten Ziele konnten in weitem Umfang erreicht werden: (1) Es gelang, in kritischer Auseinandersetzung mit den bisherigen Ansätzen ein erweitertes Ensemble an Analysekategorien für den frühesten Minnesangs zu entwickeln, das dessen Diversität jenseits der Isolationsthese oder einer Entwicklungslogik auf die Hohe Minne hin differenzierter als zuvor beschreibbar macht. Das veränderte und erweiterte Analyseensemble ebenso wie die Editionsarbeit erlauben es dabei auf unterschiedlichen Wegen, die damit verbundenen ,früh’-,spät’-Indices bzw. die tradierten Phaseneinteilungen und -grenzen zur Diskussion zu stellen und kritisch auf einer breiteren Argumentationsbasis zu überprüfen. (2) Darüberhinaus ermöglichen es die neuen Analysekategorien, die poetischen Organisationsformen des frühesten Minnesangs stärker als zuvor als Reflexe und Reflexionen kultureller Vielstimmigkeit zu begreifen. Dabei zeichnen sich die vielstimmigen kulturellen Korrelationen – etwa zwischen laikalen und klerikalen Interessen, zwischen heterogenen Gefühlskulturen, zwischen kontroversen Inszenierungen weiblicher und männlicher Stimmen, zwischen disparaten Raum- und Zeitparadigmen, zwischen französischen und lateinischen Einflüssen, zwischen Chauvinismus und Dienstgedanken etc. – innerhalb des frühen Minnesangs z.T. in kaum merkbaren Übergängen, z.T. aber auch in harten Schnitten ab. Als entscheidend erweist sich, dass diese Diversität gerade nicht in Hinblick auf einen Liedtypus (etwa das Frauenlied) oder ein sich durchsetzendes Konzept (etwa das Ich-Lied der Hohen Minne) zu hierarchisieren ist, sondern sich ein flexibles Arbeiten mit ,Motiv-Versatzstücken’, mit fluide erscheinenden Reim-, Strophen- und Liedtypen innerhalb einer sich erst herausbildenden Tradition abzeichnet. Auf diesem Weg kann der früheste Minnesang, den Teilprojekt 1 bearbeitete, als hochgradig aufgeladenes, experimentelles Diskussionsfeld bzw. das Dietmar-Corpus in der Edition und Interpretation von Teilprojekt 2 als „Sammelbecken“ einer von der Überlieferung als stimmig empfundenen Heterogenität erfasst werden. Die Diversität der thematischen Formationen, die internen Spannungen, die vielfach offenen Ränder werden infolgedessen nicht länger als Unbeholfenheit, Vorläufigkeit oder Unfertigkeit gelesen, sondern als spezifisches Potential, dessen kulturelle Energie sich aus der heterogenen Vielfalt der Stimmen-, Bild- und Traditionsorchestrierung erst ergeben kann. Auf dieser Basis lässt sich der früheste Minnesang als experimentierend-dynamischer Ort der Verhandlungen extrem divergenter – paralleler, interferierender oder konfligierender–Traditionen, Kulturmuster sowie Ausdrucksvarianten begreifen und sein Verhandlungsangebot als eigenständige Kulturleistung in den Blick rücken. (3) Schließlich konnte das Projekt die kulturhistorisch übergreifende These plausibilisieren, dass ,Pluralität’, ,Vielstimmigkeit’ und ,Polyphonie’ nicht nur als Spätphänomene kultureller Ausdifferenzierung in der Absetzung von Autoritätenbildung und etablierten Traditionen in Anschlag zu bringen sind, wie dies auf unterschiedlichen Ebenen vielfach diskutiert wurde und wird, sondern dass ,Pluralität’, ,Vielstimmigkeit’ und ,Polyphonie’ ebenso als maßgeblich stimulierendes Potential junger Kulturen am Beginn von Traditionsbildungen wahrzunehmen sind. Aufgrund der Neufokussierung und -wertung des frühen Minnesangs unter dem Leitparadigma der Vielstimmigkeit erhofft sich somit das Projekt, einen prinzipiellen Beitrag zu den poetologischen Bedingungen des deutschsprachigen literarischen Anfangs in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu leisten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Online-Edition des Autorkorpus Dietmar von Aist, in: „Lyrik des deutschen Mittelalters“ (LDM)
Dietmar von Aist, hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl
- Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse, in: Udo Friedrich, Manfred Eikelmann (Hgg.), Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos, Berlin 2013, S. 75–115
Annette Gerok-Reiter
- Die ‚Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie. Überlegungen zum Minnesang, in: Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke-Hartung, Nicola McLelland, Silvia Reuvekamp (Hgg.), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. Schriften des XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin u.a. 2015, S. 97−118
Annette Gerok-Reiter
- Vom Sinn und Unsinn, sich mit dem Frühen Minnesang zu beschäftigen, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 2015, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 2016, S. 65−67
Annette Gerok-Reiter
- Dietmar von Aist. Vielschichtige Poetik : Studien zu einer literarhistorischen und forschungsgeschichtlichen Standortbestimmung, Dissertation, Universität Tübingen, 2017. Heidelberg : Universitätsverlag Winter, 2019. 300 S.
Simone Leidinger
- Ästhetik der Polyphonie. Der frühe deutschsprachige Minnesang als Austragungsort kultureller Diversität, in: Transkulturalität und Translation: Literaturwissenschaftliche Mediävistik heute, Festschrift für John Greenfield, hgg. von Ingrid Kasten und Laura
Annette Gerok-Reiter
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110556438-003) - Diversität als Potential. Versuch einer Neuperspektivierung des frühesten Minnesangs, Dissertation, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2017. Heidelberg : Universitätsverlag Winter,2020. 460 S.
Anna Sara Lahr
- Klang, Raum und Zeit bei Dietmar von Aist, in: Raum und Zeit im Minnesang, hgg. von Annette Gerok-Reiter, Anna Sara Lahr und Simone Leidinger (Tagungsband; Beiträge in redaktioneller Bearbeitung, Heidelberg : Universitätsverlag Winter 2020. S 7-25. ISBN 9
Simone Leidinger
- Raum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen (Studien zur historischen Poetik, Band 29) Heidelberg: Winter, 2020
Annette Gerok-Reiter, Anna Sara Lahr, Simone Leidinger (Hgg.)
- Versehrtheit: Funktionen eines Motivs in der frühen Lyrik, in: Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIV. Anglo- German Colloquium (Saarbrücken 2015), hgg. von Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman. Tübinge
Annette Gerok-Reiter