Geschichte machen. Archivbenutzung im Spannungsfeld staatlicher Archivpolitik und historischer Forschung im langen 19. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Unser Verständnis von der Bedeutung der Archive für die moderne Geschichtswissenschaft ist maßgeblich von einer nationalgeschichtlichen Perspektive überformt. Diese Perspektive behauptet, dass der Herausbildung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert moderne historische Archive zur Seite standen. Dieser Blick auf die Vergangenheit privilegiert einzelne historische Ereignisse, um die Initiation dieser progressiven Entwicklung zu begründen (wie etwa die Französische Revolution, Archivreformen in einzelnen Staaten und die damit einhergehende Vorstellung einer „Öffnung“ der Archive, oder auch die heroischen Entdeckungen in den Archiven von einzelnen Forschern). Das Forschungsprojekt zeigt auf, dass anstelle von radikalen Zäsuren oder Ursprüngen des radikal Neuen um die Jahrhundertwende 1800 vielmehr sehr wirkungsmächtige Traditionen vorlagen, die die Archive (ihre Funktion, ihre Verwaltung und Ordnung) ebenso prägten wie die Möglichkeiten des Zugangs zu ihren Beständen (e.g. die arcana imperii, die Stellung des secretum für die Archive, die Praxis der Supplikation, die informellen Netzwerke und die Reisen der Gelehrten). Die zentrale These der Studie ist, dass sich im 19. Jahrhundert ein gesellschaftspolitischer Kommunikationsprozess über den Nutzen und den Zweck der Archive entfaltete. Man könnte auch sagen: In einer sehr langfristigen Perspektive vollzog sich im 19. Jahrhundert – und auch darüber hinaus - eine neuartige Vergesellschaftung der Archive; das soll aber nicht heißen, dass Archive bislang nicht eingebettet waren in ihre Gesellschaft; ihre bisherige soziale Funktion war bislang nur auf den rechtspolitischen Aspekt vorrangig beschränkt. Maßgeblich beteiligt und wirkungsmächtig waren an dem gesellschaftspolitischen Kommunikationsprozess im 19. Jahrhundert – abstrakt gesprochen – zwei Elemente: erstens die Tradition der arcana imperii, die um die politische Integrität der Archive besorgt war; und zweitens die Mikropolitik der Gelehrten, mit Hilfe derer unabkömmliche Ressourcen mobilisiert wurden (wie Informationen, Unterstützungen, Kontakte), um bei den Archivvorstehern und den Behörden eine „historische Einstellung“ zu den politisch sensiblen Archivbeständen zu erwirken. Das Ergebnis der Verhandlungen über den Zweck der Archive war eine zunehmende Verflechtung von historischer Forschung und Archivpolitik. Die Ausgangsfrage der Studie, wie Gelehrte und Forscher im 19. Jahrhundert an sekretiertes Archivmaterial gelangten, mündet schließlich in eine Analyse der komplexen Bedingungen historischen Wissens und Erkennens. Die Studie ermittelt in diesem Zusammenhang einen in der Wissens- und Historiografiegeschichte bislang wenig beachteten, für Gesellschaft und Politik des 19. Jahrhunderts jedoch zentralen - und auch debattierten und umkämpften - Umstand: die Zensur. Fazitartig lässt sich festhalten: Auf der einen Seite beschränkten archivpolitische Maßnahmen auf entscheidende Weise das historische Aktenstudium; Vor– und Nachzensur schränkten Recherchen ein und verhinderten auch die Nutzung von Material; vor diesem Hintergrund konnten Archive auch keine wissenschaftliche Kontrollfunktion ausüben. Auf der anderen Seite waren für die Gelehrten die Archivalien aufgrund ihres epistemischen Wertes äußerst attraktiv; die Arbeit mit den sogenannten Urkunden war ein Privileg, und in den Studien und Briefen der Gelehrten war die Archivbenutzung ein vielfältig genutztes Mittel, um sich im wissenschaftlichen Feld zu distinguieren. Nicht zuletzt zeigt die Studie auf, dass historisches Forschen in den Archiven - eine modulierte Aneignung von sekretierten Daten - eine gesellschaftspolitische Dimension hatte. Das historische Forschen in Archiven tangierte sowohl die Repräsentation von politischen Größen als auch die archivpolitische Ordnung der Gesellschaft. Das von Forschern und Gelehrten bekundete historische Interesse an den Archivbeständen erwirkte folglich langfristig, dass die Archive sich wandelten, und veränderte und prägte somit auch Staatlichkeit im 19. Jahrhundert mit.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2021) Buying Unethical Loyalty: A Behavioral Paradigm and Empirical Test. Social Psychological and Personality Science 12 (3) 363–370
Philipp Müller
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Die fehlende Eingabe. Zur Geschichte der Archivbenutzung und ihrer Regulierung im 19. Jahrhundert, in: Archivar 65 (2012) 3, 153-159
Philipp Müller
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“Using the Archive”. Exclusive Clues of the Past and the Politics of the Archive in 19th Century Bavaria. Storia della Storiografia 62 (2012) 2, 27-53
Philipp Müller
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Archives and history. Towards a history of “the use of the state archives” in the 19th century. History of the Human Sciences 26 (2013) 4, 27-49
Philipp Müller
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Vom „Hauptzweck“ des Geheimen Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien. Joseph Knechtl über Leopold Rankes Gesuch um Benutzung des zentralen Archivs der habsburgischen Monarchie. Archivalische Zeitschrift 93 (2013), 71-89
Philipp Müller
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Die neue Geschichte aus dem alten Archiv. Geschichtsforschung und Arkanpolitik in Mitteleuropa ca.1800-ca.1850. Historische Zeitschrift 299 (2014) 1, 36-69
Philipp Müller
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Die Niederungen des Archivs. Von Hilfsarbeitern und Dienern, Schriftstücken und anderen Archivdingen, in: Xenia von Tippelskirch/Sandra Maas (Hrsg.), Faltenwürfe der Geschichte. Entdecken, entziffern, erzählen, Frankfurt a.M. 2014, 305-317
Philipp Müller
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Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Wallstein Verlag: Göttingen 2019. 517 Seiten, 9 Abbildungen, ISBN 978-3-8353-3599-8
Philipp Müller
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(2020): Histoire, archives et politique en Mitteleuropa (1800-1850). In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 74 (3-4), S. 625–656
Philipp Müller
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Das Bittgesuch von Karl August Muffat. Zur Geschichte von Herrschaft und Verwaltung, in: Maria Rhode/Ernst Wawra (Hrsg.), Quellenanalyse : ein epochenübergreifendes Handbuch für das Geschichtsstudium , Paderborn : Ferdinand Schöningh, 2020. S. 330-337
Philipp Müller