Auslegung automatisierter Produktionsanlagen im Automobilbau mit Hilfe einer physikbasierten mechatronischen Simulation (AutoPhyS)
Final Report Abstract
In nahezu jeder vollautomatischen Produktionsanlage tritt ein umfangreicher Materialfluss auf, da der angestrebte hohe Automatisierungsgrad bei gleichzeitiger Produktflexibilität nur durch entsprechende Transporteinrichtungen zwischen den einzelnen Maschinen erreicht werden kann. Aus steuerungstechnischer Sicht ist hierbei gerade der Materialfluss komplexer als es das relativ geringe Investitionsvolumen für die Transporteinrichtungen, meist Standardkomponenten verschiedener Hersteller, vermuten lässt. Für die umsetzenden Anlagenbauer, zumeist kleine und mittlere Unternehmen (KMU), führt dies zu kostenintensiven Verzögerungen in der Inbetriebnahme. Darüber hinaus stellt bei vielen Produktionsanlagen der Materialfluss den Engpass dar. Durch eine intelligente Steuerung des Materialflusses kann folglich die Effizienz der gesamten Produktionsanlage deutlich gesteigert werden. Schließlich handelt es sich bei den Verkettungssystemen zwar um Anlagenteile, die aus Standardkomponenten zusammengestellt werden können, die Konfiguration ist jedoch kunden- bzw. insbesondere produktabhängig individuell und führt zu jeweils spezifischen Förderbedingungen für das Transportgut. Um die Inbetriebnahmezeit möglichst gering zu halten, ist es zwingend notwendig, bereits während der Entwicklung einer automatisierten Maschine oder Anlage mit Hilfe von Simulation die Steuerungsprogramme zu testen und zu verbessern. Mittels der Methoden dieser so genannten Virtuellen Inbetriebnahme können folglich Produktionsausfälle minimiert und die Leistung des Gesamtsystems gesteigert werden. Dabei ist eine effiziente und realistische Abbildung von Fördereinrichtungen, dem Fördergut und den Transportprozessen erforderlich. Im vorliegenden Forschungsvorhaben wurde deshalb eine neue Methode für die Simulation des maschinen- und anlageninternen Materialhandlings zur Virtuellen Inbetriebnahme entwickelt. Der Kern des Simulationsverfahrens bildete dabei ein so genanntes Physikmodell, in dem die physikalischen Parameter des Anlagenmodells, wie z. B. die Massen der Fördergüter, hinterlegt sind. Dieses wird an die reale Steuerungstechnik gekoppelt und für eine echtzeitfähige Berechnung des Materialflusses genutzt. Hierfür wurden zunächst die methodischen und technischen Anforderungen analysiert und bewertet. Die Selektion der optimalen so genannten Physik-Engine bildete die Grundlage für eine erfolgreiche softwaretechnische Umsetzung, da dieses Softwarepaket für die Auswertung des Physikmodells genutzt wurde. Da die gängigen Datenschemata für die entwickelte Methode unzureichend waren, wurde, ausgehend von dem Quasistandard für graphische Daten (VRML und Collada), ein neues Format definiert, welches die effiziente Verwaltung von Physikmodellen für die Virtuelle Inbetriebnahme ermöglicht. Die technischen Anforderungen wurden weiter genutzt, um eine Analyse und Bewertung der gängigen Physik-Engines durchzuführen. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigte, dass die Physikmodule Intel© Havok™ in der Version 7.1.0 für die Simulation starrer Körper und Nvidia® PhysX™ in der Version 2.7.3 zur Simulation formlabiler Bauteile sowie flüssiger Stoffe die Anforderungen erfüllten. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurde mit den Implementierungsarbeiten eines ersten Softwareprototypen begonnen. Der Einsatz der Physik-Engine bildete dabei den Kern der entwickelten Lösung, welche den Materialfluss und das physikalische Verhalten der Produktionsanlage simuliert. Basierend auf diesen grundlegenden Arbeiten wurden anschließend die Benutzerinteraktion, die Abbildung großer Anlagenmodelle und die Integration nichtstarrer Simulationsobjekte fokussiert. Im Bereich der Interaktion wurden zahlreiche hard- und softwareseitige Interaktionsmetaphern analysiert, umgesetzt und evaluiert. Hierbei zeigte sich, dass die Kombination von (3D-)Maus und Tastatur den Bediener intuitiv unterstützt und alternative Technologien, aufgrund mangelnder Präzision bei der Bedienung, zu vernachlässigen sind. Die wichtigsten Ergebnisse hin zu einem industriellen Einsatz der physikbasierten Virtuellen Inbetriebnahme wurden durch die neue Methodik zur Abbildung großer Modelle erreicht. Basierend auf einer Analyse der Simulationsgrenzen wurden die neuen Methoden zur konvexen Zerlegung und Polygonreduktion der tesselierten Daten sowie zur Klassifikation des Anlagenmodells in das bestehende Vorgehen zur Modellerstellung integriert. Folglich wurde die Berechnungsdauer während der physikbasierten Virtuellen Inbetriebnahme deutlich gesenkt. Darüber hinaus ermöglichte der Einsatz neuer Entwurfsmetaphern, wie die abstrakte Verarbeitungsmaschine sowie die Quelle, die Senke und der Puffer, eine Fokussierung des simulierten Anlagenausschnittes und somit eine weitere Reduzierung des Berechnungsaufwandes. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass durch die Implementierung von zwei neuen Greifverfahren die numerische Stabilität von Greifprozessen stark verbessert werden kann. Abschließend wurde durch die erstmalige Integration formlabiler Bauteile und flüssiger Stoffe das enorme Nutzenpotenzial dieser Fortschritte aufgezeigt und der Grundstein zukünftiger Forschungstätigkeiten gelegt. Der während der Forschungsarbeit implementierte Softwareprototyp wurde genutzt, um mehrere Anwendungsszenarien aus der Industrie zu simulieren. Der neuartigen Methode folgend, wurden die 3D-Geometrien aus dem 3D-CAD-System um physikalische Parameter, wie beispielsweise die Masse, angereichert und eine Schnittstelle zur realen Steuerung parametriert. Dadurch war es erstmals möglich, eine echtzeitfähige Simulation des Materialflusses mit einem sehr genauen Modell der Anlage durchzuführen. Diese Versuche mit dem Softwareprototyp belegen die angestrebte Steigerung der Aussagekraft der Simulation. Zusätzlich wurde die Qualität des Steuerungsmodells erheblich erhöht und bisher nicht vorhersehbare konstruktive Mängel am Anlagenmodell identifiziert und ausgebessert. Die im Rahmen dieses Forschungsprojektes erzielten methodischen und softwaretechnischen Grundlagen bilden somit eine unmittelbare Ausgangsbasis zukünftiger Forschungsthemen und industrieller Softwaresysteme für die physikbasierte Virtuelle Inbetriebnahme.
Publications
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Einsatz eines Physikmodells zur Simulation des Materialflusses einer Produktionsanlage. In: Gausemeier, J. (Hrsg.): 7. Paderborner Workshop Augmented & Virtual Reality in der Produktentstehung. Paderborn, 05.06.2008 - 06.06.2008. Paderborn 2008, S. 207-219. ISBN: 978-3-939350-51-4
Reinhart, G.; Lacour, F.-F.; Spitzweg, M.
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Einsatz eines Physikmodells zur Simulation des Materialflusses einer Produktionsanlage. it – Information Technology 50 (2008) 3, S. 192-198
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Virtuelle Unterstützung der Produktion. Intelligenter Produzieren 2008 (2008) 2, S. 4-7
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(2009): Virtuelle Prüflehre. Zeitsparender Abgleich von CAD-Daten und real gefertigten Bauteilen. In: KEM, Jg. 2009, H. 03, S. 68–69
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Physically based virtual commissioning of material flow intensive manufacturing plants. In: 3rd International Conference on Changeable, Agile, Reconfigurable and Virtual Production (CARV 2009), 05.10.2009 – 07.10.2009
Reinhart, G.; Lacour, F.-F.
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Physikbasierte mechatronische Simulation materialflussintensiver Produktionsanlagen. In: Gausemeier, J. (Hrsg.): 7. Paderborner Workshop "Entwurf mechatronischer Systeme". Paderborn: Heinz-Nixdorf-Inst. Univ. Paderborn 2010, S. 85–97. ISBN: 9783939350910. - Best Paper Award
Reinhart, G.; Lacour, F.-F.
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Skalierbare Simulation kinematischer Strukturen in der physikbasierten Virtuellen Inbetriebnahme. In: Gausemeier, J. (Hrsg.): Augmented & Virtual Reality in der Produktentstehung. Paderborn: Heinz-Nixdorf-Inst. Univ. Paderborn 2010. ISBN: 978-3-939350-93-4
Reinhart, G.; Lacour, F.-F.