Eine BICs-Variante des Kapitalismus? Herausforderungen für die Stabilität des Wirtschaftsmodells großer Schwellenländer am Beispiel Brasiliens und Indiens
Soziologische Theorie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Vergleichende Kapitalismusforschung in der Politikwissenschaft untersucht national unterschiedliche wirtschaftliche Institutionen sowie ihr Zusammenspiel, um wirtschaftliche Dynamik, zum Beispiel Innovationen und Wirtschaftswachstum, zu erklären. Sie hat sich in den ersten Dekaden ihrer Etablierung fast ausschließlich mit westlichen Industrieländern beschäftigt, insbesondere mit der liberalen Marktökonomie der USA und der koordinierten Marktökonomie Deutschlands. Erst in jüngster Zeit wurden Perspektiven der Vergleichenden Kapitalismusforschung zur Analyse von Ökonomien außerhalb der Triade (USA, Westeuropa, Japan) herangezogen, wie die Entwicklung von Modellen Abhängiger Marktökonomien in Mittel- und Osteuropa sowie von Hierarchischen Marktökonomien im spanischsprachigen Lateinamerika demonstriert hat. Das Projekt hat sich aus dieser Perspektive mit den sich in den 2000er Jahren besonders dynamisch entwickelnden großen Schwellenländern Brasilien, Indien, China und Südafrika (BICS) beschäftigt. Auf Grundlage der empirischen Beschäftigung mit diesen Ländern haben wir ein weiteres Modell entwickelt, jenes des staatlich-durchdrungenen Kapitalismus. Bei unserer Vorgehensweise stand einerseits die etablierte Heuristik der Vergleichenden Kapitalismusforschung im Vordergrund, also die Analyse von Unternehmenskontrolle/Corporate Governance, Unternehmensfinanzierung, den Arbeitsbeziehungen, der Vermittlung von Fähigkeiten und dem Innovationstransfer innerhalb dieser Systeme, andererseits eine Erweiterung dieser Forschung um Aspekte staatlicher Steuerung, Binnenmarktentwicklung, Sozialstruktur und internationaler Einbindung. China und Indien entsprechen im Gegensatz zu Südafrika am ehesten diesem Modell, während Brasilien sich in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends auf dieses Modell zubewegt, in der zweiten Dekade aber wieder davon entfernt hat. Ist dieses Kapitalismusmodell damit weniger stabil als die etablierten Modelle? Einbrechende Wachstumsraten und politische Turbulenzen in Brasilien legen diesen Schluss nahe und bestimmen weite Teile der akademisch-öffentlichen Debatte. Das Projekt hat diese Debatte aufgegriffen und untersuchte in seiner zweiten Förderphase die Stabilität des in den großen Schwellenländern vorherrschenden Wirtschaftsmodells. So wurde im Rahmen eines kontrollierten Vergleichs zwischen Brasilien und Indien überprüft, ob die Grundpfeiler des Wirtschaftsmodells von einem Wandel erfasst worden sind, der die wirtschaftliche und politische Verfasstheit des Kapitalismustyps grundsätzlich in Frage stellt. Unsere Forschung hat dabei gezeigt, dass die konventionellen angebotsseitigen Kategorien der Vergleichenden Kapitalismusforschung entgegen unseren Erwartungen nicht in der Lage waren, eine Destabilisierung in Brasilien abzubilden und damit die Unterschiede zwischen Brasilien und Indien zu erklären. Besser geeignet waren hingegen die nachfrageseitigen Kategorien des Wachstumsmodellansatzes, die zeigen, dass in Brasilien essentielle Voraussetzungen in Bezug auf die Stabilität der Binnennachfrage und der globalen ökonomischen Integration in den 2010er Jahren weggebrochen sind, während jene in Indien stabil blieben. Anschließend an diesen Befund haben wir am brasilianischen Beispiel genauer untersucht, warum die für die Stabilisierung des Wachstumsmodells unverzichtbaren sozialen Koalitionen in der zweiten Dekade nach dem Millennium erodiert sind. Im Mittelpunkt steht hier einerseits (kurzfristig) deren Paralyse durch die Aufdeckung von Korruptionsskandalen und andererseits (langfristig) ihre Unfähigkeit, das staatlich-durchdrungene Kapitalismusmodell durch intellektuelle Hegemonie abzusichern. Die Ergebnisse unseres Projekts sind nicht auf eine direkte wirtschaftspolitische Anwendung ausgerichtet. Sie helfen aber Entscheidungsträgern in großen Schwellenländern, die essentiellen Parameter für politische und ökonomische Reformen zu verstehen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2013): Deep Integration in North–South Relations: Compatibility Issues between the EU and South Africa. In: Review of African Political Economy 40 (136), S. 274–289
Claar, Simone and Andreas Nölke
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(2013): Varieties of Capitalism in Emerging Economies. In: Transformation 28 (81/82), S. 33-54
Nölke, Andreas und Simone Claar
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(2014): Institutionelle Determinanten des Aufstiegs großer Schwellenländer: Eine global-polit-ökonomische Erweiterung der Vergleichenden Kapitalismusforschung. In: Politische Vierteljahresschrift 54 (Sonderheft 48), S. 67-94
May, Christian, Andreas Nölke und Tobias ten Brink
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(2015): Domestic Structures, Foreign Economic Policies and Global Economic Order: Implications from the Rise of Large Emerging Economies. In: European Journal of International Relations, 21 (3), S. 538-567
Nölke, Andreas, Tobias ten Brink, Simone Claar und Christian May
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(2018): Dependent versus State-permeated Capitalism: Two Basic Options for Emerging Markets. In: International Journal of Management and Economics 54 (4), S. 269–282
Nölke, Andreas
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(2019): Public-Private Coordination in Large Emerging Economies: The Case of Brazil, India and China. In: Contemporary Politics, 25 (3), 276-291
May, Christian, Andreas Nölke und Tobias ten Brink
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(2020): State-Permeated Capitalism in Large Emerging Economies. London and New York: Routledge (RIPE Series)
Nölke, Andreas, Tobias ten Brink, Christian May und Simone Claar
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(2021): Comparative Capitalism and Innovation Policy: Complementarities and Comparative Institutional Advantage. In: Journal of Economic Policy Reform 24 (4), S. 456-471
May, Christian und Michael Schedelik
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(2021): Comparative Capitalism, Growth Models and Emerging Markets: The Development of the Field. In: New Political Economy, 26 (4), 514-526
Schedelik, Michael, Andreas Nölke, Daniel Mertens und Christian May
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(2021): Elephant Limps, But Jaguar Stumbles: Unpacking the Divergence of State Capitalism in Brazil and India through Theories of Capitalist Diversity. In: Competition & Change
Nölke, Andreas, Christian May, Daniel Mertens und Michael Schedelik