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Wahrheitsanspruch und Humanität - Progressive muslimische Religionstheologie zu religiöser Differenz und Menschenwürde

Antragsteller Dr. Rüdiger Braun
Fachliche Zuordnung Evangelische Theologie
Religionswissenschaft und Judaistik
Förderung Förderung von 2012 bis 2019
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 223343077
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

I Das diskursive Religionswissenschaft und komparative Religionstheologie verschränkende Projekt analysierte die "hermeneutischen Strategien und Referenzen", durch die sich ausgewählte zeitgenössische sunnitische Entwürfe theologischer Anthropologie in ihrer Standortbestimmung zu religionsunabhängiger 'Humanität' und säkularer 'Menschenwürde' auszeichnen und suchte auf diesem Wege die in der christlichen Theologie vertretene These zu prüfen, im islamischen Bereich (hier: de, uk, tr, eg, tn) seien vergleichbare, Exklusivitätsansprüche kritisch infragestellende Ansätze zu einem geschichtlichen Religionsverständnis bislang nicht ausgebildet. Mit dem Fokus auf die epistemologischen und hermeneutischen Prämissen, die den Dispositiven der argumentativen Nostrifizierung dieser Topoi zugrunde liegen, zielte die Analyse darauf, die hermeneutischen Strategien in ihrer prämissialen und kriterialen Heterogenität ansichtig zu machen und komparativ in Beziehung zu setzen. II. Vor dem Hintergrund der im sunnitischen Bereich kontroversen methodologischen Debatte über die Frage nach der Kontextualisierung der kanonischen Quellen konnte die Analyse die hybride Konfiguration zeitgenössischer muslimischer Hermeneutik herausarbeiten, die in der Formulierung einer alteritätssensiblen Anthropologie bzw. in der Gewinnung von Kriterien zur Legitimierung religionsunabhängiger 'Humanität' auf höchst unterschiedliche (ethische, pragmatische usw.) Kriterien und Momente der Ideengeschichte, der Erfahrung oder des 'Gemeinwohls' (maṣlaḥa) zurückgreift. Eine dominante kriteriale Rolle nimmt dabei der im Einzelnen durchaus divergente Rekurs auf die maṣlaḥa bzw. die universalen 'Intentionen' (maqāṣid) des Koran sowie des islamischen Rechts ein. III. Als grundlegend erwies sich die Einsicht, dass die progressive Dynamik zeitgenössischer sunnitischer Entwürfe zur theologischen Anthropologie – auch im Kontext des Intentionalismus - nur dann Überzeugungskraft zu generieren vermag, wo diese Dynamik hermeneutisch plausibilisiert bzw. mit einem methodologisch reflektierten und konstruktiv-kritischen Zugang zum performativen und polyphonen Diskurs des Koran verbunden werden kann. IV. Die im Forschungsverlauf erarbeitete Taxonomie umfasst sieben hermeneutische Ansätze, die sich wiederum vier Referenz-Clustern zuordnen lassen: (I) ein traditionalistisch-konservativer und (II) inklusiver Ansatz (KON-Text), (III) ein reaktiv-positivistischer und (IV) ethico-zentrischer Ansatz (PRÄ-Text), (V) ein demythologisierend-existentialistischer und (VI) soziorhetorisch-intertextueller Ansatz (KONtext) sowie ein posttextuell-pragmatischer Ansatz (INTER-Text). Einen systematischen Gesamtüberblick über diese hermeneutischen Ansätze bietet eine 2018 erscheinende Monographie ('Humanität und Normativität. Konturen und Perspektiven theologischer Anthropologie im zeitgenössischen muslimischen Diskurs'). V Die genannten Ansätze nehmen in ihrer koranbezogenen Referentialität jeweils unterschiedliche kontextuelle Dynamiken des koranischen Diskurses zum Ausgangspunkt ihrer Hermeneutik und spiegeln somit die mit diesen Dynamiken verbundene Perspektivität des koranischen Diskurses wider. Dessen Performativität und Multiperspektivität erlaubt nicht nur unterschiedliche anthropologische Akzentsetzungen und Wertungen von 'Humanität' und 'Würde', sondern auch unterschiedliche Bestimmungen von religiöser Alterität und Normativität. VI. Eine Projekttagung zu 'Approaches to the anthropology of the Qurʾān in contemporary Muslim discourse' machte in der Zusammenschau muslimischer und nicht-muslimischer Perspektiven die spezifische Charakteristik des koranischen Diskurses in seiner Auseinandersetzung mit früheren spätantiken Diskurstraditionen ansichtig. Als bedeutsam erwies sich dabei die Einsicht, dass sich die Genealogie des religiös Normativen nicht unter Absehung der (Tria-)Logik, Funktionalität und sozio-politischen Kontextualität der existentielle und anthropologische Diskurse miteinander verzahnenden Erzählrhetorik des Koran verstehen lässt, dass aber die jeder Koraninter-pretation inhärierende Tendenz, die Pluralität der dem Offenbarungsdiskurs innewohnenden Bedeutungsspektren konzeptualisierend zu verengen, gerade diese kontextuelle Normativität des Diskurses aus dem Blick geraten lässt. Im Gesamtergebnis lassen sich somit anthropologische Entwürfe im islamischen Bereich ohne die transformativen Dynamiken und Perspektiven des hermeneutischen Diskurses weder sinnvoll verstehen noch systematisch einordnen. Einen umfassenden Einblick in diese Multiperspektivität theologischer Anthropologie im sunnitischen Diskurs bietet ein die Beiträge der Tagung zusammenführender Sammelband unter dem Titel "New Approaches to Human Dignity in the Context of Qurʾānic Anthropology – The Quest for Humanity" (Cambridge 2017, siehe Flyer). VII. Insofern die Wahrnehmung der Diskursivität und Intertextualität der koranischen Verkündigung zugleich neue Interpretationsräume zur Formulierung einer zeitgenössischen Anthropologie und Rechtstheorie erschließt, sind es im Horizont der Synopse der analysierten hermeneutischen Ansätze (I-VII) insbesondere die historisch sensibilisierten Zugänge zum Koran, die es Theologinnen und Theologen ermöglichen, die in der islamischen Tradition erstarrten Vorstellungen von göttlicher Kommunikation, menschlicher Verpflichtung und religions-unabhängiger Humanität und Alterität aufzubrechen und deren epistemologische und anthropologische Prämissen kritisch zu reflektieren. Forschungsperspektivisch stellen die dynamischen Interdependenzen zwischen Koranhermeneutik und theologischer Anthropologie eines der vielversprechendsten Forschungsfelder intertheologischer Forschung auch deshalb dar, weil den damit verbundenen Herausforderungen und Möglichkeitsräumen das Potential innewohnt, die diskursive Zusammenführung muslimischer und nichtmuslimischer Zugänge zum koranischen Diskurs voranzutreiben.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • New approaches to human dignity in the context of Qur'ānic anthropology : the quest for humanity, Cambridge 2017
    Braun, Rüdiger (ed. with Hüseyin Çiçek)
  • Reasoning Humanity: Toward a Contextual Reading of the Qur'anic Anthropology, in: New approaches to human dignity in the context of Qur'ānic anthropology : the quest for humanity, Cambridge 2017, S. 179 ff.
    Braun, Rüdiger
  • Respons: »Anmerkungen zur Rekonfiguration des Heiligen(den)«, in: Sola Scriptura - die Heilige Schrift als heiligende Schrift. Hrsg. N. Hamilton. Leipzig 2017. Beihefte zur ökumenischen Rundschau; Nr. 116. S. 183 ff.
    Braun, Rüdiger
  • Textautorität und Dekanonisierung – Zeitgenössische muslimische Zugänge zum säkularen Topos Menschenwürde im Horizont einer historisch sensibilisierten Exegese des Koran, in: Fachzeitschrift für Recht und Islam (ZRI) 2017, 1-13
    Braun, Rüdiger
 
 

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