Carl Philipp Emanuel Bachs konzertante geistliche Chorwerke. Musik, Poetik und bürgerliche Andacht in der norddeutschen Aufklärung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt befasste sich mit den fünf größeren konzertant-geistlichen Vokalwerken aus C. P. E. Bachs Hamburger Zeit als Fallbeispiele einer geistlichen Musik der norddeutschen Aufklärung zwischen Kirche und Konzertsaal. Ziel war erstens die entstehungs- und sozialgeschichtliche Verortung der Stücke innerhalb der Geschichte des Konzerts zwischen bürgerlichem Liebhaberkonzert, geistlichem Konzert und dem kunstreligiös aufgeladenen Sinfoniekonzert, also zwischen Empfindsamkeit, Aufklärung und Frühromantik. Daran anschließend sollte zweitens musikanalytisch überprüft werden, inwiefern die zentralen Kompositionen diese sozialgeschichtliche Verortung spezifisch prägen oder davon geprägt sind. Die erste Phase der Projektarbeit, die Rekonstruktion der Aufführungs- und institutionellen Bedingungen, erforderte umfangreiche Archiv- und Literaturstudien, weil insbesondere die Bedingungen von Oratorien- und Passionsaufführungen in Nebenkirchen für die Fragestellung relevant und bisher wenig untersucht worden sind. Dazu konnten neue Befunde dokumentiert werden, die die Aufführungen insbesondere der Passionskantate von Bach als wirkliche Zwischenräume erkennen ließen: Veranstaltet durch bürgerliche, ehrenamtliche Vorsteher, mit dem Verkauf von Textbüchern als Eintritt, durch die Sammlung für karitative Zwecke bei gleichzeitig finanziell nur mühsam überhaupt ausgeglichener Bilanz ähnelte die Reihe einem Liebhaberkonzert, für das gleichwohl regelmäßig ein Pastor für seine Predigt extra bezahlt wurde. Weiterführende Recherchen anhand von Ego-Dokumenten zur Frage, inwiefern rituelle Bestandteile des Gottesdienstes hier mitausgeführt wurden und welchen gesellschaftlichen Raum die Veranstaltungen einnahmen, brachten wenig konkret historischen Aufschluss, wiesen aber hinsichtlich der Rezeptionshaltung geistlicher Musik allgemein auf das metaphorische Umfeld des Erhabenen und der Andacht hin. Ausgehend von diesem umfangreichen Befund wurde analytisch die Passionskantate ins Zentrum gestellt. Im Vergleich zunächst mit der Matthäus-Passion des Jahres 1768, auf deren Grundlage Bach die Passionskantate erarbeitete, eröffnete sich die einmalige Möglichkeit, kompositorisch die Anpassung einer liturgischen Passion in ein Passionsoratorium nachzuvollziehen. Zentrale Perspektiven bildeten dabei die Veränderung der dramaturgischen Gesamtkonzeption, die Nutzung und Einbindung des Chorals als rituell gebundener kirchenmusikalischer Gattung und der Fuge als überkommener Form, die Positionierung der textimmanenten theologischen Haltung zwischen Konservativismus und aufgeklärtem Protestantismus sowie Anknüpfungspunkte der Kategorie des Erhabenen, die für alle relevanten Stücke ein zentrales Wortfeld der Rezeption ausmacht. Ausgehend von der Passionskantate konnte auf diese Weise gezeigt werden, dass das Stück – klar differenziert gegenüber der Matthäus-Passion – in markanter Weise Elemente eines fortgeschrittenen Autonomisierungsprozesses zeigt: Der Werkbeginn generiert einen musikalischen Satz erst nach und nach, schöpft sich insofern selbst. Choräle erscheinen an dramatisch wichtigen Punkten, aber nur als Teilzitat oder Allusion, und bilden einen abstrakten Verweis auf den Ritus. Die Doppelfuge in der Passionskantate zeichnet einen erhabenen Moment im Verlauf aus, enthält aber eine Sollbruchstelle, an der der Satz in einen konzertierenden Gestus wechselt. Theologisch liefert der Text seine eigene Auslegung des Bibeltextes, die auf Mit-Leiden, auf Aktualisierung und Identifikation, aber auch auf Wissensvoraussetzungen beruht. Diese Erkenntnisse lassen nun indirekt Schlüsse auf die Nebenkirchen-Passionsgottesdienste zu: Erstens wurde deutlich, dass der Abstraktionsgrad der mitkomponierten (Kirchenmusik-)Geschichte als Teil der Passion ein bildungsbürgerliches Publikum erforderte und sich nicht an eine Gemeinde richtete, die einen gesellschaftlichen Gesamtquerschnitt abbildet. Die Darbietung einer Musik, die sich selbst erschafft, erforderte zweitens eine entsprechende Ruhe und Andacht, die offenbar hier – nicht aber im Liebhaberkonzert gegeben war, wo üblicherweise eine Sinfonie mit Sammlungs- und Eröffnungscharakter durch Vollstimmigkeit und Lautstärke auf sich aufmerksam machte. Die existenzielle Autonomisierung der Musik durch das Herausstellen ihrer eigenen Schöpfungskraft rückt das musikalische Gesamtgeschehen drittens in die Nähe des Erhabenen. Alle Perspektiven wurden punktuell auf die übrigen Werke des Korpus übertragen und erwiesen sich – in je spezifischer Weise – konsistent für die Werkgruppe, obwohl sie nicht in einem Gattungszusammenhang zu betrachten sind. Insbesondere anhand des kleiner besetzten und formal kürzeren Morgengesangs am Schöpfungsfeste konnte z. B. der seit dem mittleren 18. Jahrhundert präsente, die Form insgesamt erfassende Erhabenheits-Topos nachvollzogen werden. Die Projektarbeit hat gezeigt, dass die geistlich-konzertante Musik der norddeutschen Aufklärung, als deren Beispiel die fünf Stücke von Bach herangezogen wurden, ein wichtiges missing link auf dem Weg zum frühromantischen, kunstreligiös aufgeladenen Sinfoniekonzert ausmachen, insofern als wesentliche Elemente von Andacht, Kunstfokussierung, Autonomie und Erhabenheit hier besonders günstige Bedingungen zur Erprobung vorfanden. Die im Projekt notwendig zum Abgleich bereits herangezogenen Kompositionen von Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern aus der Region haben gezeigt, dass es lohnend ist, dieses ‚Genre‘ geistlich-konzertanter Musik jenseits von Gattungsgrenzen, stattdessen innerhalb funktionaler Identität analytisch und sozialgeschichtlich weiter zu untersuchen und historiographisch zu verorten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Die „Passions-Cantate ,Die letzten Leiden des Erlösers‘“ von Carl Philipp Emanuel Bach: bürgerliche Passionsmusiken in Hamburg in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen Konzert und Gottesdienst, in: Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie 30.3–2.4.2014 in Münster (= Colloquia historica et theologica Bd. 2), hg. von Albrecht Beutel und Martha Nooke, Tübingen 2016, S. 365‒78
Kathrin Kirsch