Anfänge von Sprache, Geschichte und Gesellschaft am Übergang zur Moderne: Vico und Montesquieu gegen Jean-Jacques Rousseau
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Kern der Forschungstätigkeit innerhalb des Teilprojekts bezog sich im Wesentlichen auf drei Felder, nämlich auf paradigmatische Anfangsfigurationen am Übergang zur Moderne bei Giambattista Vico, bei Montesquieu und bei Rousseau, wobei Moderne nach R. Koselleck verstanden wird als die mit der Sattelzeit um 1750 anhebende Geschichtsperiode. Hierbei interessierten in Bezug auf den Philologen und Philosophen Vico vor allem dessen Vorstellungen zum Anfang von Sprache und Kultur, beim Geschichtsdenker Montesquieu dessen Vorstellungen vom Beginn des Neuen in der Geschichte und beim Gesellschaftstheoretiker Rousseau dessen Vorstellungen von der Gründung der Gesellschaft. 1. Im Kontext der allgemein gestellten Frage nach Anfangsfiguren konnte für Vico das ‚Bild‘ als eine Anfangsfigur ausgemacht werden, die nicht nur in seinem Hauptwerk, den drei sukzessive erweiterten Ausgaben der Scienza Nuova, sondern auch anderen Schriften, insbesondere dem früheren Traktat De antiquissima Italorum sapientia, zu Grunde liegt. Während die bisherige Forschung vorrangig die bildhafte – in der Regel metaphorisch oder mythologisch fundierte – Herleitung des Anfangs von Sprache betont hatte, konnte aufgezeigt werden, dass die Bildhaftigkeit bei Vico einerseits einen Bezug zum Schöpfungsbericht der Genesis enthält, wo der Mensch als ‚Ebenbild Gottes‘, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen dem zu Folge als dessen abgestufte Teilhabe an Gottes bildnerischer Tätigkeit aufgefasst werden kann; dass Bildhaftigkeit andererseits auch in der Anlage der theoretischen Darstellung zum Vorschein kommt, nämlich wenn der Vorrede des Hauptwerks ein Frontispiz mit einem Kupferstich vorangestellt ist, welches den beschreibenden Diskurs materaliter aus dem Bild hervorgehen lässt. 2. Im Kontext der Frage nach der Übertragung innerhalb von Anfangskonstellationen konnte gezeigt werden, dass Montesquieus theoretisches Hauptwerk De l’esprit des lois zwar als Motto Ovids Formel "prolem sine matre creatam" (Metamorphosen II,553) voransetzt, dass aber die vorgebliche Mutterlosigkeit seiner Theorie des modernen Staates insgeheim dennoch eine signifikante Figur der Mütterlichkeit ins Spiel bringt, nämlich die römische Geschichte, die als Vorbild dient und ihrerseits auf die Geburt der Stadtgründer aus Rhea Silvia und auf die Säugung durch die kapitolinische Wölfin zurückverweist. Eine weitere Anfangsszene entwirft die Fabel von den Troglodyten in den Lettres persanes, welche an die Stelle sukzessiver Linearität das antike Modell der Anakyklosis, des Kreislaufs der Verfassungen setzt und Phantasien eines gewalttätigen Anfangs transportiert. Rousseaus Verteidigung der römischen Zivilreligion steht somit in krassem Gegensatz zu Montesquieus Staatslehre. 3. Rousseau entwirft Ursprungs-Szenarien vor allem in den beiden gesellschaftstheoretisch gehaltenen Discours. Hier scheint ein Anfangs-Szenarium zunächst gewaltfrei zu funktionieren, und erst mit der später kommenden Einführung des Privateigentums, wie sie im Second Discours vorausgesetzt wird, hält die Gewalt Einzug in der Gesellschaft. Rousseaus fiktionale Schriften entwerfen demgegenüber ein anderes Tableau, das oft verkannt wurde: In der als Idylle konzipierten Nacherzählung Le Lévite d’Éphaïm (eine Episode aus dem 2. Buch der Könige) geht der Gesellschaftsgründung nicht etwa eine Situation des friedlichen Zusammenlebens der Individuen voraus, sondern die Begründung der israelitischen Königsherrschaft ist vielmehr die Folge einer extrem gewalttätigen Gesetzlosigkeit, welche die Individuen traumatisiert und in Rousseaus eigentlicher Gesellschaftstheorie ‚vergessen‘ oder unsichtbar gemacht zu werden scheint. Allerdings kehren Elemente solch einer grausamen Gründungsgewalt, wie sie bei R. Girard beschrieben wird, auch im Briefroman La Nouvelle Héloïse wieder, wo die aufgeklärt empfindsame Idealgesellschaft von Clarens gemäß der narrativen Logik des Textes erst durch ein regelrechtes Kindsopfer instituiert wird: Nachdem Julie von ihrem Vater M. d’Étanges geschlagen worden ist, verliert sie ihr noch ungeborenes Kind und kann deshalb an M. de Wolmar verheiratet werden. Anders als man meinen würde emergiert Gewalt nicht erst im état social, sondern sie liegt dessen Anfang schon zu Grunde.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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»Am Anfang war ... das Bild − Zu Vicos Genealogie von Sprache, Gesellschaft und Kultur«, in: Am Anfang war ... Ursprungsszenen und Anfangskonstruktionen der Moderne, edd. Inka Mülder-Bach, Eckhard Schumacher, München: Wilhelm Fink 2008, pp. 43–70
Bernhard Teuber
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«Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas – Prudencio, Dante, Lezama Lima», in: Dante – La obra total, edd. Juan Barja, Jorge Pérez de Tudela, Madrid: Círculo de Bellas Artes 2009, pp. 303–350
Bernhard Teuber
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»PPoeta doctus an philologusoeta doctus an philologus? – Rimbaud zwischen Gelehrsamkeit, Philologie und Antiphilologie«, in: Poeta philologus – Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, edd. Georg Dehrmann, Alexander Nebrig (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, NF, Band 22), Bern et al.: Peter Lang 2009, pp. 256–280
Bernhard Teuber
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»Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? – Montesquieus Rückschau auf das Römische Reich und dessen unheimliche Wiederkehr bei Rousseau«, in: Übertragene Anfänge − Imperiale Figurationen um 1800, edd. Tobias Döring, Barbara Vinken, Günter Zöller, München: Wilhelm Fink 2010, pp. 77–102
Bernhard Teuber
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»Processionaliter – Mittelalterliche Hymnen als liturgische Songlines?«, in: Medialität der Prozession – Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne, edd. Katja Gvozdeva, Hans Rudolf Velten, Heidelberg: Winter 2011, pp. 63–91
Bernhard Teuber
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»Sor Juana Inés de la Cruz als Moralistin – Eigenliebe und Genuss zwischen Anthropologie und Theologie«, in: Literatur und Moral, edd. Volker Kapp, Dorothea Scholl, Berlin: Duncker & Humblot 2011, pp. 227–244
Bernhard Teuber
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»Strategien der Konstitution von Dichterschaft und Geschlechterperformanz bei Arthur Rimbaud«, in: Strategien der Autorschaft in der Romania – Zur Neukonzipierung einer Kategorie im Rahmen literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich basierter Geschlechtertheorien, edd. Claudia Groneman, Tanja Schwan, Cornelia Sieber, Heidelberg: Winter 2012, pp. 117–141
Bernhard Teuber