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Die Politik des Lebendigen. Eine Studie zur Entstehung und Rezeption der Zelltheorie in Frankreich und Deutschland, ca. 1800-1900

Antragstellerin Dr. Florence Vienne
Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Afrika-, Amerika- und Ozeanienbezogene Wissenschaften
Förderung Förderung von 2013 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 229963934
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt untersuchte die Geschichte der Zelltheorie im 19. Jahrhundert aus einer deutsch-französischen Perspektive. Anhand verschiedener Fallstudien zu deutschen und französischen Forschern – u.a zu François-Vincent Raspail (1794-1878), Theodor Schwann (1810-1882) und Charles Robin (1821-1885) – wurden verschiedene epistemische Motive, Forschungsansätze und politische, philosophische aber auch religiöse Ideen verdeutlicht, die die Entstehung und Entwicklung der Zelltheorien im 19. Jahrhundert prägten. Ferner wurde die Rezeption der Zelltheorie in Frankreich zwischen 1838 und 1900 am Beispiel zweier Orte – Straßburg und Paris – betrachtet. Während die Straßburger Mediziner dazu beitrugen, die Zelltheorien von Schwann und Rudolf Virchow zu verbreiten und in die Physiologie einzuführen, zeigten die Pariser Ärzte und Robin sich kritisch gegenüber einigen Postulaten dieser Theorien und ihrer Implikationen für die Medizin (insbesondere im Bereich der Krebsdiagnostik und -behandlung). Im Projektverlauf wurde zunehmend deutlich, dass die Frage der Rezeption insgesamt neu zu stellen ist. Französische Forscher können nicht lediglich als „Vorläufer“ oder „Rezipienten“ bzw. „Gegner“ einer Theorie betrachtet werden, die von einigen Deutschen (Schleiden, Schwann und Virchow) erfunden wurde. Auch sie formulierten (vor und nach den 1830er-1850er Jahren) Zelltheorien, die neue Sichtweisen über die Natur und Gesellschaft beinhalteten. Mit diesem Ansatz hat das Projekt neue Perspektiven auf die Verflechtungen zwischen Zelltheorie und politischen Kontexten eröffnet. Wir fassten diese Verflechtungen als wechselseitigen Prozess auf, durch welchen im 19. Jahrhundert gleichzeitig neue Ordnungsvorstellungen der Natur und der Politik hervorgebracht wurden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass unterschiedliche liberale und republikanische Denkmodelle, aber auch reaktionäre Strömungen in der Geschichte der Zelltheorie eine Rolle spielten. Unsere Analysen zur geschlechterpolitischen Dimension der Zell- und Reproduktionsforschung des 19. Jahrhunderts legen dagegen nahe, dass selbst Zellforscher, die von liberalen Prinzipien der Universalität, der Gleichheit und der individuellen Autonomie inspiriert waren, diese Prinzipien nicht auf das weibliche Geschlecht anwandten. Insgesamt ist also der Einfluss des Liberalismus auf die Zellforschung des 19. Jahrhunderts, der in der Historiographie bislang hervorgehoben wurde, differenzierter zu betrachten. Ein zentraler und unerwarteter Befund ist die große Bedeutung der Religion für die Geschichte der Zelltheorie im 19. Jahrhundert. In den unterschiedlichsten Entwürfen für eine Neuordnung der Natur und der Gesellschaft, die in Deutschland und Frankreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts artikuliert wurden, ging es auch immer darum, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, Kirche und Staat neu zu bestimmen. Entsprechend muss die bislang vorherrschende historiographische Interpretation revidiert werden, nach dem die Entstehung der Zelltheorie ausschließlich mit dem Durchbruch materialistischem Denkens in der Biologie verbunden war.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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