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Gegenarchive: Bäuerliche Autobiographie zwischen Zarenreich und Sowjetunion

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2012 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 232281441
 
Gewalttätig, naiv und stumm - nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 galt diese Charakterisierung des russischen Bauern nicht mehr. Der Bauer wurde zum Symbol für eine in Bewegung geratene Gesellschaft. In Autobiographien und Tagebüchern erzählten Bauern ihre Leben als Sklaven, Autodidakten oder religiös Erweckte und eroberten eine Leserschaft, die in diesen Texten neben dem vermeintlich »echten« Bauern auch alternative Gesellschaftsentwürfe fand. Vor allem autokratiekritische Publizisten sprachen nun auch Bauern als Schreiber autobiographischer Texte und als handelnde Individuen an. Für sie waren diese Texte Gegenarchive, mit denen sie ihre Sicht auf das Zarenreich durchzusetzen hofften. War vor der Aufhebung der Leibeigenschaft das Sammeln und die Publikation bäuerlicher Lebenswege keine Option gewesen, wurden sie nun zu einem beliebten Mittel, um Ordnungsvorstellungen und Fragen sozialer Ungleichheit zu verhandeln. Anhand von ca. 300 autobiographischen Texten zeige ich, wie die Freisetzung aus vorgegebenen Rollen auf die Selbstinszenierungen der Bauern zurückwirkten, die nun auf ein größeres Spektrum an Möglichkeiten zurückgreifen konnten, um über sich zu schreiben. Meine Studie besteht aus vier Teilen.' Im ersten Kapitel stehen historiographische und archivarische Praktiken im Umgang mit Autobiographik im Zentrum. In der russischen Geschichtswissenschaft galt der Autobiograph nicht in erster Linie als Gewährsmann für sein eigenes Leben. Vielmehr sahen die Historiker in ihm einen »Zeugen« für eine durch Zensur und verschlossene Archive verborgene Vergangenheit. Der den autobiografischen Texten zugetraute Zeugnischarakter leitete nicht nur die Lektüre, sondern bestimmte auch Archivierung und Überlieferung. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Perspektive auf die Entstehung der Texte verschoben. Mit Presse und Publizistik, den von Wissenschaftlern angeregten Autobiografieprojekten und dem Kreis der Familie werden drei soziale Räume vorgestellt, in denen Bauern und Bäuerinnen ihr Leben aufzeichneten. Ziel der Studie war es, die Grenzen dieser drei Räume herauszuarbeiten. Nicht überall konnte auf die gleiche Weise als »Bauer« geschrieben werden. Um über sich zu sprechen und mit seinem Text überliefert zu werden, mussten verschiedene Zugangserfahrungen vorgezeigt und durch bestimmte Selbstbezeichnungen an kollektive Identitäten angeknüpft werden, die für eine spezifische Vorstellung von sozialer Ordnung standen. Ich sehe den Hauptverdienst meiner Studie darin, zeigen zu können, dass es im Zarenreich nach 1861 zu einer Verflüssigung von denkbaren und sagbaren Ordnungsvorstellungen kam. Auf diese Veränderung reagierten auch marginalisierte Gruppen, die durch das Schreiben sowie Sammeln von bäuerlicher Autobiographik versuchten, eine neue Position im sozialen Raum zu finden. In den 1930er Jahren kam es dann wieder zu einer Verfestigung von Ordnungsvorstellungen. Vor allem.in der Öffentlichkeit gab es keine Adressaten mehr für gesellschaftskritisches Schreiben. Die Kollektivierung erstickte mit der bäuerlichen Autonomie auch das Erzählen über das eigene Leben.
DFG-Verfahren Publikationsbeihilfen
 
 

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