Das Projekt 'Allgemeine Kunstwissenschaft' (1906-1943): Leitidee - Institution - Kontext
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Kunstgeschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Unter dem Namen ‚Allgemeine Kunstwissenschaft‘ formiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine interdisziplinäre Initiative zur Erforschung der Kunst. Von den Philosophen Max Dessoir (1867-1947) und Emil Utitz (1883-1956) initiiert, entwickelt sie sich rasch zu einem wissenschaftlichen Forum mit einer eigenen Zeitschrift, Kongressen und einem Verein. Für mehr als drei Jahrzehnte prägt die Allgemeine Kunstwissenschaft den wissenschaftlichen Austausch und die Zusammenarbeit von Kunstwissenschaftlern im deutschen Sprachraum und gilt international als Inbegriff einer avancierten Kunstforschung. Sie ist ebenso verflochten mit dem Deutschen Werkbund wie mit der kulturwissenschaftlichen Kunst- und Bildforschung an der Bibliothek Aby Warburgs in Hamburg. Ihre unmittelbare internationale Wirkungsgeschichte umfasst u.a. das sowjetische Parallelunternehmen zum deutschen Bauhaus, die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften (russische Abkürzung: GAChN) in Moskau mit Gustav Špet, Vasilij Kandinskij u.a. In Frankreich greifen die Kunsttheoretiker Victor Basch, Charles Lalo, Étienne Souriau und Raymond Bayer den Impuls auf. Und Thomas Munro, der langjährige Redakteur des Journal of Aesthetics and Art Criticism, weist auf die Schlüsselbedeutung der Allgemeinen Kunstwissenschaft für die amerikanische Kunstforschung hin. Die Nationalsozialisten setzen dieser Initiative aufgrund ihrer antitraditionalistischen Zielsetzungen, aber auch aufgrund der jüdischen Herkunft zahlreicher ihrer Vertreter schließlich ein Ende. Dass diese Initiative heute selbst in Fachkreisen fast vergessen ist, führt exemplarisch vor Augen, in welchem Maß die wissenschaftliche Kultur des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland durch die nationalsozialistische Herrschaft dauerhaft zerstört wurde. Ziel des Forschungsvorhabens ist es, dieses Projekt zur Grundlegung einer interdisziplinäre und gegenstandsnahen Wissenschaft von der Kunst erstmals umfassend zu rekonstruieren: (1) als Institution mit diversen Plattformen, die in ihrer konzeptionellen Anlage und Funktionsweise charakterisiert werden, (2) als Initiative in einem spezifischen Kontext, der von der empirischen Ästhetik, der Einfühlungsästhetik und dem Formalismus eines Konrad Fiedler bis hin zur Phänomenologie und dem Strukturalismus der Prager philosophischen Tradition reicht, und (3) als Idee, die auf diese Problemlagen reagiert und unterschiedliche wissenschaftstheoretische Entwürfe zeitigt. Als Protagonisten der methodologischen Grundlegung der Allgemeinen Kunstwissenschaft werden dabei neben Dessoir und Utitz insbesondere die Kunsthistoriker August Schmarsow (1853-1936), Richard Hamann (1879-1961) und Edgar Wind (1900-1971) vorgestellt. Dies geschieht einerseits, um die historische Bedeutung dieser Initiative ins Bewusstsein zu rufen: Es gilt, an seinerzeit international maßstabsetzende Forschungszusammenhänge der Kunstwissenschaft zu erinnern, die bis heute in vielen Kunstinstitutionen und in der Idee einer interdisziplinären Kooperation der kunstrelevanten Wissenschaften fortwirken. Es geht aber nicht allein um eine historische Würdigung dieser Initiative. Vielmehr soll andererseits gezeigt werden, dass die kulturelle und theoretische Problemkonstellation, auf die die Allgemeine Kunstwissenschaft reagiert, in entscheidenden Hinsichten noch unsere eigene ist und dass die beiden zentralen methodologischen Strategien, die vor diesem Hintergrund entwickelt werden, nach wie vor sachlich weiterführen: zum einen die heute wieder geltend gemachte Absicht, die Fokusbildungen von Werk-, Produktions- oder Rezeptionsästhetik in einer Explikation der Struktur des Kunstwerks zusammenzuführen, zum anderen eine Betrachtung der Kunst als kulturelles Phänomen in der Vielfalt seiner ästhetischen und nichtästhetischen Funktionen. Das Forschungsvorhaben versteht sich damit als Beitrag zur Geschichte der Selbstverständigung der modernen Kunstwissenschaften sowie der Kunstphilosophie über ihren Gegenstandsbereich und ihre Methodik. Die Arbeitsergebnisse werden in zwei einander ergänzenden Hauptpublikationen präsentiert: einer Monographie und einer Sammlung von Grundlagentexten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„‚Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.‘ Zur Bestimmung des Verhältnisses von Sehen und Wissen bei Edgar Wind“. In: Nikolaj Plotnikov (Hrsg.): Kunst als Sprache – Sprachen der Kunst. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2014 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 12), S. 92-110
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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„Kunst als praxis. Zu einem Motiv der ‚Allgemeinen Kunstwissenschaft‘ (1906-1943)“. In: Daniel M. Feige und Judith Siegmund (Hrsg.): Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 17-31
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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„‚Kunstkönnen‘ und ‚Kunstwollen‘. Zur Funktion der Technik in der Kunst“. In: Birgit Recki (Hrsg.): Techne – poiesis – aisthesis. IX. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 2015 [Hamburg]. (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Bd. 3)
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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Berlin 1913 – Paris 1937: Ästhetik und Kunstwissenschaft im Zeitalter der Kongresse / L’esthétique et la science de l’art à l’âge des congrès. Schwerpunktthema der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. 61/2 (Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016)
Bernadette Collenberg-Plotnikov, Carole Maigné und Céline Trautmann-Waller (Hrsg.)
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„Forschung als Verkörperung. Zur Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind“. In: Judith Siegmund (Hrsg.): Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 65-86
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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„Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Konzeptionen eines Forschungsprogramms“. In: B. Collenberg-Plotnikov, Carole Maigné und Céline Trautmann-Waller (Hrsg.): Berlin 1913 – Paris 1937. Schwerpunktthema der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. 61/2 (Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016), S. 189-203
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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„‚Ėstetika i obščee iskusstvoznanie‘. Ob odnom konceptual’nom istočnike GAChN“ [„‚Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft‘. Zu einem konzeptionellen Bezugspunkt der ‚GAChN‘“]. In: Nikolaj Plotnikov und Nadja Podzemskaia (Hrsg.): Iskusstvo kak jazyk – jazyki iskusstva. [Kunst als Sprache – Sprachen der Kunst. Die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften und die ästhetische Theorie in Russland der 1920er Jahre]. 2 Bde. Moskau: Verlag Novoe Literaturnoe Obozrenie 2017, Bd. 1, S. 143-171
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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„August Schmarsow und die kulturelle Bestimmung des Rhythmus in der Allgemeinen Kunstwissenschaft“. In: Boris Roman Gibhardt (Hrsg.): Denkfigur Rhythmus. Probleme und Potenziale des Rhythmusbegriffs in den Künsten. Hannover: Wehrhahn Verlag 2020 (Ästhetische Eigenzeiten. 18), S. 147-163
Bernadette Collenberg-Plotnikov
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Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906-1943). Idee – Institution – Kontext. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2021. (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 20).
Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hrsg.)
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Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906-1943). Max Dessoir – Emil Utitz – August Schmarsow – Richard Hamann – Edgar Wind. Grundlagentexte. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2021 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 21)
Bernadette Collenberg-Plotnikov