Musikalische Selbstreflexion: Musik über Musik im 19. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt untersuchte Phänomene künstlerischer Selbstreflexivität in der Musik. Während Formen der Selbstreflexivität in Gestalt von autoreferenziellem Erzählen, Illusionsbrechungen im Theater oder mises en abyme in der bildenden Kunst seit langem bekannt sind, stellt die Frage, inwiefern Musik als gegenstandslose Kunst sich in reflexiver Brechung auf sich selbst zurückbeziehen kann, die Musikwissenschaft vor erhebliche Herausforderungen. Im Laufe des Projekts konnte selbstreflexives Komponieren an vielfältigen Beispielen aus dem 19. Jahrhundert untersucht werden, angefangen von der Inszenierung einer Genese der Variationsform in Beethovens Prometheus-Variationen op.35 bzw. dem kompositorischen Diskurs über das Variieren der Variation in den Diabelli-Variationen op.120, bis hin zum Liedschaffen Hugo Wolfs, das erkennbar von einer „Einflussangst“ in Bezug auf diejenigen Komponisten durchzogen ist, die die Gattung „Lied“ bisher geprägt hatten. Die Detailstudien zu einzelnen Werken bestätigten nicht nur die These des Literaturwissenschaftlers Werner Wolf, dass Formen „impliziter Metareferenz“ auch in der Musik auftreten können, sondern sie förderten zugleich ein breites Spektrum ästhetischer Konzepte zutage, die zu selbstreflexivem Komponieren geführt haben, z.B. das Spiel mit Desillusion und musikalischer Bühne in einigen Symphonie-Finalsätzen Joseph Haydns, Distanz als Ausdruckshaltung in Chopins Barcarolle op.60 oder das „Unheimliche“ als das Fremdgewordene Vertraute bei Robert Schumann. Überhaupt stellte sich die Musik Robert Schumanns gewissermaßen als Kristallisationspunkt musikalischer Selbstreflexion im 19. Jahrhundert heraus. Ist bereits das Klavierwerk der 1830er Jahre als „permanentes Intermezzo“ (Roland Barthes) von einem beständigen Zwei-feln an der Möglichkeit konsistenter musikalischer Formlogik geprägt, so lässt sich der selbstreflexive Zweifel an den Mitteln und Resultaten der künstlerischen Aussage bis in seine Textvertonungen der 1850er Jahre (z.B. Des Sängers Fluch; Der Rose Pilgerfahrt) verfolgen. Im Vergleich mit der Lyrik Heinrich Heines konnte gezeigt werden, dass diejenige Selbstreflexivität, auf welche die „Ironie“ von Heines Gedichten abzielt, erstens in Schumanns Heine-Vertonungen als musikimmanente Kritik der Gattung „Lied“ wiederkehrt und zweitens darüber hinaus auch „illusions-“brechende Techniken in Schumanns Instrumentalmusik charakterisiert. Darüber hinaus kann Schumann als einer der ersten Autoren gelten, die Phänomene musikalischer Selbstreflexion beschrieben haben, z.B. in seiner Analogie zwischen dem Autor auf der Theaterbühne bei Grabbe und einem Quintettsatz Beethovens oder durch die Funktion des Begriffs „Ironie“ in seinen Rezensionen, die auf eine Selbstkritik der zeitgenössischen Musik an ihren überlebten Ausdruckswerten hinzuweisen scheint. Die Musikhistoriographie profitiert v.a. im Bereich der Moderne-Forschung von den Ergeb-nissen des Projekts: Die Untersuchung musikalischer Selbstreflexion ermöglicht eine qualita-tive Neubestimmung der musikalischen „Moderne“ nach dem Modell gesellschafts- und kul-turtheoretischer Modernebegriffe – eine Neubestimmung, die die holistischen und „linearen“ Modernebegriffe, welche die Musikwissenschaft bislang dominierten, zugunsten eines plura-listischen Modernebegriffs ablöst, der eine „selbstreflexive“ Moderne von nicht-selbstreflexiven Modernen und Gegenmodernen zu unterscheiden vermag. So konnte unter Rückgriff auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns gezeigt werden, dass sich musikalische Selbstreflexion als genuin moderner Versuch des „sozialen Systems“ Musik verstehen lässt, sich selbst durch Prozesse von Reflexion zu kontrollieren.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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"Wer heisst euch mit Fingern zeigen auf mich?" Selbstreflexive Illusionsbrüche bei Hans Christian Andersen und Robert Schumann. In: Danish Yearbook of Musicology 35 (2007), S.31-49
Rene Michaelsen
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Robert Schumanns „Der Dichter spricht" - in musikanalytischer und philologischer Interpretation. In: Friederike Wißmann (u.a.): Vom Erkennen des Erkannten. Musikalische Analyse und Editionsphilologie. Festschrift Christian Martin Schmidt, Wiesbaden 2007, S.285-293
Wolfram Steinbeck
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"Music about Music". Metaization and Intertextuality in Beethoven 's Prometheus Variations op.35. In: Werner Wolf und Walter Bernhart (Hrsg.); Metareference across media. Theory and case studies, Amsterdam 2009, S. 211-233
Tobias Janz
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Exploring Metareference in Instrumental Music. The Case of Robert Schumann. In: Werner Wolf und Walter Bernhart (Hrsg.): Metareference across media. Theory and case studies, Amsterdam 2009, S. 235-257
Rene Michaelsen
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Musikhistoriographie und Moderne. In: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 24 (2009), S. 312-330
Tobias Janz
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»Freiheit in Fesseln«. Zur Metamusikalität von Chopins Barcarolle op. 60. In: Friedrich Geiger (Hrsg.), Musikkulturwissenschaft (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 25), Frankfurt a. M., 2010, S. 111-141
Tobias Janz
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>Goodbye 20th-Century<: Sonic Youth, John Cages Number Pieces und der lange Abschied von der Avantgarde. In: Friedrich Geiger (Hrsg.), N. N. (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 27), Frankfurt a. M. 2011, ISBN 978-3-631-61732-8
Tobias Janz
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Hugo Wolfs poetologische Lyrik. In: Festschrift Hermann Danuser, hrsg. von Camilla Bork, Tobias R. Klein, Burkhard Meischein u. a., Mainz, 2011, S. 468-478
Tobias Janz
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Selbstreflexion als Konstituente der musikalischen Moderne? - Überlegungen zu einem Forschungsprogramm. In: Wolfram Steinbeck u. a. (Hrsg.), Selbstreflexion in der Musik\Wissenschaft (= Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft, 16)), Kassel 2011, S. 45-59
ISBN 978-3-7649-2716-5
Tobias Janz
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Selbstreflexion in der Musik\Wissenschaft (= Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft), Kassel 2011, ISBN-13: 9783764927165
Wolfram Steinbeck u. a.
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Selbstreflexion einer Gattung: Die Variationen ab 1802. In: Wolfram Steinbeck (Hrsg.), Beethovens Klavierwerke. Das Handbuch (= Das Beethoven Handbuch in 6 Bänden, Bd. 2), Klaviermusik, Laaber, S. 421-462. ISBN 978–3–89007–472–6
Tobias Janz