Quellenstudien zum Qanun fi t-tibb des Ibn Sina
Final Report Abstract
Der Qānūn fī ṭ-ṭibb des Ibn Sīnā gilt unangefochten als das wichtigste Werk im medizinischen Lehrunterricht über Jahrhunderte im Orient wie in Europa. Anhand einer Quellenanalyse zum zweiten Buch des Qānūn (einfache Heilmittel) konnten Fragen zu Ibn Sīnās Methode beim Umgang mit seinen Quellen und damit zu seiner Originalität im medizinischen Bereich beantwortet werden. Um der Bedeutung des Qānūn im lateinischen Westen gerecht zu werden, ist ein Kapitel der Untersuchung der lateinischen Übersetzung des Qānūn gewidmet. Bei den Quellen zur Pharmakologie im Qānūn handelt es sich um Traktate der antikgriechischen Medizin sowie um medizinische Literatur des islamischen Raums. Fast alle diese Informationen enthält auch das Kitāb al-Ḥāwī des ar-Rāzī. Allerdings formulierte Ibn Sīnā seine Texte neu und brachte die Inhalte in eine von ihm konzipierte, auf der antiken Humoralpathologie basierende Systematik. Hier besteht das methodische Problem, die einzelnen Informationen einer konkreten Quelle zuzuordnen, da direkte Zitate kaum vorkommen und die Inhalte der im islamischen Raum entstandenen Werke alle auf die griechischspätantiken Vorlagen zurückzuführen sind. Wiederholt werden unterschiedliche Lehrmeinungen von Ibn Sīnā meist relativ oberflächlich diskutiert und gewichtet. Ergänzend finden sich hin und wieder in den Beschreibungen zu einfachen Heilmitteln knapp gehaltene Hinweise auf das iranisch-persischen Umfeld des Ibn Sīnā, z. B. zur Verfügbarkeit einer Droge auf dem lokalen Markt oder Angaben zu möglichen Ersatzmitteln, so eine Pflanze oder ein Mineral nur schwer oder teuer zu erwerben ist. Alles in allem hinterlässt der Text zum zweiten Buch des Qānūn einen eher "unfertigen", unausgewogenen Eindruck. Die Systematik scheint Ibn Sīnā in jedem Fall wichtiger gewesen zu sein als der Inhalt selbst. Interessanterweise konnten Zusätze praktischen Inhalts zum Qānūn ganz klar auf die handschriftliche Vorlage des Drucks Rom 1593 zurückgeführt werden. Ein unerwarteter Befund ergab sich darüber hinaus bei der Untersuchung eines bislang stets dem Besitz des Ibn Sīnā zugeschriebenen Manuskripts mit Galen-Traktaten, das sich heute in der Bibliothèque Nationale, Paris, befindet (Ms. arab. 2859). Der angebliche, sehr kurze Besitzereintrag des Ibn Sīnā ist in einer zeitlich nicht fassbaren flüchtigen Kursive abgefasst; die beiden Datierungsangaben im Manuskript selbst wurden radiert und überschrieben, um eine frühere, zeitlich zu Ibn Sīnā passende Entstehungszeit zu erreichen. Da auch der Duktus des Manuskripts auf eine deutlich spätere Datierung schließen lässt, ist deshalb nicht davon auszugehen, dass sich dieses Manuskript je in den Händen des Ibn Sīnā befand. Schließlich traten bei der Untersuchung des zweiten Buchs des Canon, der lateinischen Übersetzung des Gerhard von Cremona (Toledo, 12. Jahrhundert), zahlreiche Ungereimtheiten zutage, die nicht mit der sonst Gerhard zugeschriebenen, sorgfältigen Wort-für-Wort-Methode in Übereinklang zu bringen sind. Der lateinische Text zeichnet sich im Vergleich zu seinem arabischen Original durch zahlreiche, teilweise extreme Kürzungen aus. Diese Ergebnisse führen zu einer völlig neuen Bewertung der Übersetzungstätigkeit des Gerhard von Cremona und seiner Schüler.
Publications
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Avicenna's Canon in East and West: A long history of editions, in: Variants 5 (2006), 331-41.
Veit, Raphaela
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Der Arzt Andrea Alpago und sein medizinisches Umfeld im mamlukischen Syrien, in:
Miscellanea Mediaevalia 33 (2006), 305-16.
Veit, Raphaela
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"Andrea Alpago", in: Encyclopaedia of Islam / Third Edition, Leiden, 2008, 82-3.
Veit, Raphaela
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Greek roots, Arab authoring, Latin overlay: Reflections on the sources for Avicenna's Canon,
in: Vehicles of Transmission, Translation, and Transformation in Medieval Cultures, ed. by C.
Fraenkel, J. C. Fumo, F. Wallis, R. Wisnovsky, Turnhout, 2011, 363-380.
Veit, Raphaela